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Full text of "Die Darwin'sche Theorie und ihre Stellung zu Moral und Religion"

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- DARWIN’ sche THEORIE 


und ihre Stellung 


zu Moral und Religion 


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D G. JAEGER. 
| Stuttgart 


Julius Hoffmann 
(KEK. Thienemanns Verlag.) 


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DARWIN’ sche THEORIE 


und Ihre Stellung 


zuMoral und Religion 


von 


DE G. JAEGER. 


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| Stuttgart 
Julius Hoffmann 
( K.Thienemanns Verla$ ) 


Alle Rechte vorbehalten, 


Die Darwin’sche Theorie. 


Fünf Vorträge, 


gehalten 


von Dr. G. Jäger. 


Vorrede 


Vier Vorträge, die ich dieſen Winter vor einem 
Kreis von Gebildeten hielt, übergebe ich mit einigen Er⸗ 
weiterungen der Oeffentlichkeit: die drei erſten ſind ſo, wie 
ich ſie gehalten, nach ſtenographiſcher Aufzeichnung mit 
einigen größeren Anmerkungen im Intereſſe der Vollſtän⸗ 
digkeit, der vierte Vortrag iſt auf's Doppelte erweitert und 
in zwei getrennt, etwa ſo, wie ich ihn in einem auf der 
Univerſität Tübingen angekündigten Vorleſungschklus halten 
werde. Das Erſtere geſchah auf Wunſch des Verlegers, 
das Letztere, weil ich mich überzeugte, daß in der gedräng⸗ 
ten Form, wie ich meine Anſichten über Religion damals 
vortrug, keine Gewähr für richtige Auffaſſung liegt. Uebri⸗ 
gens auch in der Form, in welcher ich dieſen Theil jetzt 
der Oeffentlichkeit übergebe, ſind es nur ausgewählte 
Abſchnitte aus einer größeren noch nicht voll— 
endeten Arbeit über Religion, in welcher ich alle 
Hauptdogmen in gleicher Weiſe behandle. Ich trug an- 
fangs Bedenken gegen dieſe bruchſtückweiſe Veröffentlichung 
einer Religionsphiloſophie — die ſich, wie Kenner finden 
werden, am meiſten der Kant'ſchen nähert — entſchloß 
mich aber dann doch, dem mir gewordenen Antrag auf 
Drucklegung und dem gleichlautenden Wunſche vieler meiner 


Zuhörer nachzukommen, in der Erwägung, daß ſo gekürzt 
die durch meine Auffaſſung gebotene Anregung in dieſer — 
dickleibigen Abhandlungen abholden Zeit weitere Kreiſe tref⸗ 
fen werde. Eine Beſorgniß habe ich freilich immer noch, 
nämlich die: es möge mir der Vorwurf eines Cokettirens 
mit den Partheien gemacht werden. Bei der Kürze der 
Darſtellung mußte ich natürlich mich mehr auf den poſi⸗ 
tiven Theil beſchränken und die Kritik in den Hintergrund 
ſtellen. Namentlich ungern habe ich die Kritik gegen die 
Intoleranz der ultramontanen Partheien und ihre auf N 
noranz abzielenden Beſtrebungen weggelaſſen. Dieſes Ge⸗ 
fühl hat mir auch, nachdem die Vorträge ſelbſt ſchon unter 
der Preſſe waren, den „Anhang“ in die Feder diktirt. 
Ich hoffe, ſo kurz er iſt, wird er dem Leſer den Eindruck 
hinterlaſſen, daß es ſich nicht um ein „faules Compro⸗ 
miß“ handelt, auch nicht um Senſationsmacherei, ſondern 
um die ernſte Gewinnung einer unanfechtbaren 
Grundlage, über die hinaus Freiheit der Ueberzeugung, 
auch geſunde wiſſenſchaftliche und praktiſche Kritik — denn 
ohne ſie kein Fortſchritt — möglich iſt. 

Zum Schluß noch die Erklärung, daß ich das An⸗ 
gebot öffentlicher Disputation, mit dem ich meine Vorträge 
ſchloß, auch ſchriftlich aufrecht halte. 


Dr. Guflan Zäger. 


0 
Al im letzten Jahre ein internationaler Congreß von Einleitung. 


Naturforſchern zuſammentrat, meinte der berühmte Phyſiologe 
Helmholtz: es wäre wohl hier die ſchicklichſte Gelegenheit, zu con— 
ſtatiren, wie es ſich verhalte mit der Darwin'ſchen Lehre, in wie 


weit ſie anerkannt ſei von den Männern der Wiſſenſchaft, und 
in wie weit noch Gegner gegen ſie vorhanden ſeien. Es handle 
ſich hier nicht um die Wiederaufwärmung des Streits, ſondern 
nur um eine ſtatiſtiſche Erhebung; es möge jeder erklären, wie 
er ſich zu dieſer Lehre ſtelle; und ſiehe da, das Reſultat war, 
daß ſich Niemand gegen ſie erklärte. Nach dieſem Erfolg der 


Darwin'ſchen Lehre im Gebiet der Fachmänner könnten eigentlich, 
ſo ſollte man denken, diejenigen, welche ſich ihre Vertheidigung zur 
Aufgabe geſtellt haben, ſich zurückziehen hinter ihre Bücher und 
Inſtrumente, um die Fortbildung derſelben zu pflegen; allein dem 
iſt nicht ſo, und warum? | 

Als ich im Jahre 1860 in Wien zwei Vorträge über die 
Darwin'ſche Theorie“) angekündigt hatte, fand ſich ein Natur- 


*) Dieſelben erſchienen ſpäter in gekürzter Form unter dem Titel: Die 
Darwin'ſche Theorie über die Entſtehung der Arten, zwei Vorträge von 
f 1 


forſcher bemüßigt, wenige Tage zuvor einen Vortrag über denſelben 
Gegenſtand zu halten, den er mit dem Ausſpruch ſchloß: „Die 
Darwin'ſche Theorie verſtößt gegen Moral und Religion.“ Diefer 
Satz cirkulirt nun durch die ganze Welt, und ſpeziell in unſerem 
Schwaben können Sie ihn beiſpielsweiſe zwiſchen je zwei Blättern 
des neuen Kalenders für 1869 finden; Sie haben dieſen Satz 
in den Vorträgen im Königsbau wiederholen hören; er ſpukt in 
populären Schriften, man hört ihn nur zu häufig in Privat⸗ 
geſprächen. i 

Früher gab es eine lange Zeit, in der gegen die Geiſter der 
Unduldſamkeit alle Naturforſcher, Mann für Mann, einſtanden, 
wenn es die Vertheidigung ihrer Wahrheiten galt; als ſich aber 
die Naturforſcher über die Darwin'ſche Theorie ſtritten, geſchah 
daſſelbe, was wir bei Gelegenheit des Bruderkrieges in Amerika 
geſehen haben: mit einer der ſtreitenden Parteien verband ſich ein 
urſprünglich gemeinſchaftlicher Feind. 

Nach dem, was ich im Anfang ſagte, haben wir Darwi— 


nianet unſere Seceſſionspartei überwunden; aber jene Geiſter der 


Dr. G. Jäger. Wien. 1862. bei Carl Gerold's Sohn. Die Veröffent⸗ 
lichungen Darwin's ſind zwei Werke, das erſte: Darwin, Ueber den Ur— 
ſprung der Arten, deutſch von H. G. Bronn, jetzt bereits in dritter 
Auflage erſchienen, enthält die Erläuterung der Theorie; das zweite: Dar- 
win über das Variiren der Thiere und Pflanzen in der Dome— 
ſtication, überſetzt von Victor Carus, erſchien einige Jahre ſpäter und 
enthält die thatſächlichen Belege für die Theorie. Einleitend ſei nur noch 
bemerkt, daß Darwin ſelbſt in ſeinen Schriften mit keinem Worte von Mo⸗ 
ral und Religion ſpricht. 


3 


Unduldſamkeit, die während des Streites wachgerufen worden, find 


noch zu bekämpfen, und deshalb muß noch einmal aufgetreten 
werden, um die Lehre auch von dieſem Vorwurf zu befreien. 

Es iſt eine ſchwierige Sache für den Naturforſcher, fich über 
dieſen letzten Punkt auszuſprechen. Ich rufe wieder ein Erlebniß 
in mein Gedächtniß zurück. Als ich im Jahre 1858 in Wien 
einen Feſtvortrag im zoologiſch-botaniſchen Verein hielt über die 
pſychiſchen Verrichtungen der Thiere, zog ich mir eine Disciplinar⸗ 
unterſuchung zu ſeitens des Unterrichtsminiſteriums, und zwar auf 
Veranlaſſung des Erzbiſchofs von Wien. Befragt, was man an 
meinem Vortrage ausſetze, wurde mir zur Antwort: „man werde 
nicht klug daraus, was ich über die Religion denke, man habe 
vorausgeſetzt, daß ich über Religion ſpreche, und ich habe es nicht 
gethan“. 8 

Dieſem Vorwurf gegenüber fand ich mich in einer ſehr glüd- 
lichen Lage. Mit der Berufung auf das Sprichwort: „ne sutor 
ultra crepitam“, (Schuſter bleib bei deinem Leiſten) war die 
Sache abgemacht. Heutzutage iſt es anders. Nicht mehr die öffent- 
lichen Behörden ſind es, ſondern die öffentliche Meinung, die mit 
der Piſtole in der Hand, mit einer Piſtole, die mit Haß und 
Verachtung geladen iſt, dem Naturforſcher ſein Glaubensbekennt⸗ 
niß abfordert. Ein Naturforſcher iſt nun ein ſehr gewiſſenhafter 
Menſch, der nicht gern über etwas ſeine Anſicht äußert, bevor 
er den Gegenſtand nicht reiflich geprüft hat. Wir Darwinianer 
ſind eigentlich in der Zwangslage, uns noch einige Semeſter auf 
die Univerſität zu begeben, um auch Theologie zu ſtudiren. Thun 


wir es nicht und geben wir dennoch unſer Glaubensbekenntniß 
| 185 


4 


ab, jo laufen wir Gefahr, uns den Vorwurf des Dilettantismus 
zuzuziehen, und die Spitze des citirten Sprichworts kehrt ſich 
gegen uns. 

| Nichts deſto weniger, geſtützt auf eine Reihe von Privat⸗ 
geſprächen, die ich mit Theologen hatte, übernehme ich dieſe Ver⸗ 
theidigung ſelbſt auf die Gefahr hin, mir dieſen Vorwurf gefallen 
laſſen zu müſſen. Allein ich glaube, das Wirkſamſte, um die 
Gemüther, die in dieſem Streit mit Leidenſchaft ſich gegenüber— 
ſtehen, auf den Weg der Vernunft und des billigen Ermeſſens 
zurückzubringen, wird ſein, zuerſt auseinanderzuſetzen, welche 
Gründe die Naturforſcher beſtimmten, dieſe Lehre anzunehmen. 
Das will ich nun in den drei erſten Vorträgen thun, die zwei 


letzten ſollen der Eingangs erwähnten Vertheidigung gewid⸗ 


met ſein. 

Die Darwin'ſche Theorie enthält Altes und Neues, und es 
wird am zweckmäßigſten ſein, das auseinander zu halten, da nur 
auf dieſe Weiſe erklärt wird, warum Darwin's Auftreten eine 
förmliche epochemachende Revolution in den Naturwiſſenſchaften 
hervorrief. Ich will das Alte und Neue mit zwei unterſchiedenen 
Worten belegen. 

Das Alte iſt die Abſtammungslehre, das Neue die Dar- 
win'ſche Umwandlungstheorie. 


Abſtam⸗ Die Ab ſtammungslehre wurzelt weniger in der Kennt— 

Fa niß von naturwiſſenſchaftlichen Thatſachen, als vielmehr in der 
im 

Denk⸗ Methode unſeres Denkens. Dieſer Satz wird am klarſten werden, 

vermögen. 


wenn ich Ihnen ſage, daß der Erſte, der dieſe Anſicht, allerdings 
nicht mit der Schärfe, wie wir's heute thun können, formulirte, 


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nicht ein Naturforſcher, ſondern ein Philoſoph war, der alte Grieche 
Plato; und ihm haben ſich, bevor die Naturforſcher dieſe Anſicht 
aufgriffen, Herder, Göthe und Schelling angeſchloſſen, und wer 
| die Schriften Kant's liest, weiß, daß auch aus ihnen die Ab- 
ſtammungslehre uns entgegentritt. Sie werden dieſe Thatſache 


begreiflich finden, wenn ich Ihnen ſage, wie unſer Denkvermögen 


zu Stande kommt. 

Betrachten Sie ein Kind, wenn es in die Welt getreten iſt denk⸗ 
und anfängt, ſeine Geiſteskräfte zu ſchulen. Seine erſte Thätig⸗ rde perde 
keit beſteht darin, daß es die Sinneseindrücke, die es aus ſeiner enn. 
Umgebung erhält, als zuſammengeſetzte Vorſtellungsbilder in ſein 
Gehirn aufnimmt und ſie dort mit Hülfe ſeines Gedächtniſſes 
feſthält. Dieſe Vorſtellungsbilder folgen Schlag auf Schlag 


hinter einander, ſind zuſammengeſetzt aus einer Vielzahl von 


gleichen Dingen und einer Vielzahl von Dingen, die unter ein- 
ander verſchieden ſind. Die erſte Stufe des Denkvermögens be= 
ſteht nun darin, daß das Kind in dem Nacheinander der Vor⸗ 
ſtellungsbilder die gleichen Dinge wieder auffindet, daß es bei 
einem neuen Vorſtellungsbild gewahr wird, ein beſtimmter Eindruck 
finde ſich ſchon in einem der früheren, in ſeinem Gehirn aufge— 
ſpeicherten vor. Das iſt die Periode, wo das Kind die Dinge 
der Außenwelt wieder erkennt — und ich möchte ſie die 
Periode der cognitio rerum, des Erkennens der Dinge, nennen. 

Auf dieſe Periode folgt eine zweite: die zeitlich auf einander Zweite 
folgenden Vorſtellungsbilder enthalten Eindrücke, die zwar unter 1 
einander ſehr verſchieden ſind, aber mit einer gewiſſen Regelmäßig⸗ 
keit immer aufeinander folgen; z. B. das Kind wird durch die 


6 


häufig geübte Vergleichung der alten und neuen Vorſtellungsbilder 
gewahr, daß auf den Geſichtseindruck, den das Trinkgeſchirr her- 
vorruft, nachher der Geſchmackseindruck der genoſſenen Nahrung 
folgt. Dieſe zwei zeitlich auseinander liegenden Eindrücke, die, 
wie der Logiker ſagt, in dem Verhältniß des post hoc, des Nach⸗ 
einander, ſtehen, verketten ſich bei dem Kinde ſo, daß, ſowie der 
eine Eindruck wieder aus der Außenwelt ihm zugeſendet wird, 
ſofort der zweite aus dem Gedächtniß emporſteigt, und darin 
wurzelt die Erkenntniß des Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und 
Wirkung. Anfangs iſt es allerdings nur ein post hoc, d. h. ein 


Nacheinander, aber daraus wird das propter hoc, d. h. ein Be— 
dingtſein des Einen durch's Andere, und zwar dann, wenn die 
Erfahrung dieſen Zuſammenhang nie Lügen ſtraft, von ſelbſt, 
ſchneller aber, wenn die erzieheriſche Thätigkeit dem Kinde die 


Augen vollends öffnet über das Verhältniß von Urſache und 
Wirkung. | 


Anfangs begnügt ſich das Kind mit den nächſten Urſachen, 
allein, ſobald es häufig genug die Erfahrung dieſes urſächlichen 
Zuſammenhangs gemacht hat, dann tritt es in jene Periode, wo 
es von Urſache zu Urſache fortgeht, und ſeine Eltern und Lehrer 
lahm frägt. Dieſe Periode möchte ich die Periode der investi- 
gatio causarum, der Erforſchung der Urſachen, nennen, 
und wir werden gleich ſehen, daß die ihr zu Grund liegende 
Denkmethode auch die Methode wiſſenſchaftlicher Forſchung iſt. 

Dritte Es folgt nun allerdings bei jedem Kind eine Periode, in 
. der dieſes Aufſuchen von Urſachen hinter Urſachen ein Hinderniß 


Hemmung 


findet, in der ihm die Umgebung deshalb, weil fie ſelbſt nicht im 


5 


Beſitz der Urſachenkenntniß iſt, das Fragen unterſagt, und das iſt 
die gefährlichſte Periode für jeden Menſchen, weil er in ihr um 


die freie Handhabung ſeines Denkvermögens gebracht werden kann, 
wo es ihm gehen kann, wie einem Vogel, der in einen Käfig ge⸗ 

ſperrt, ſchließlich ſich nirgends mehr wohl fühlt, als im Käfig, 

dem es unheimlich wird, ſobald man ihn aus ihm hinaus in's 

Freie jagt. Wenn aber eine verſtändige Erziehung dieſe Methode 

des Denkens nicht unterdrückt, da wird aus einem ſolchen Kinde 

ſpäter ein Mann der Wiſſenſchaft, ein Mann der Praxis und 

ein Anhänger der Abſtammungslehre, und zwar ſo: Wenn ich bei Durchbruch 
einem Ding oder Ereigniß nach ſeiner Urſache frage, hinter dieſer Be 
Urſache eine weitere ſuche, hinter der eine Dritte Biere f. h dee. 
ſo enthülle ich, wenn es mir gelingt, dieſe Urſachen zu erkennen, 

die Geſchichte des Dinges oder Ereigniſſes, und jo führt dieſe 
Methode zu denken zur hiſtoriſchen Forſchung. Was unterſcheidet 


nun aber die Wiſſenſchaft von dem Dilettantismus? Gerade das, 
daß die erſtere ſich nicht begnügt mit der cognitio rerum, d. h. 


mit der Kenntniß der heutigen Sachlage, ſondern daß ſie ihre 
Aufgabe erſt dann für gelöst erachtet, wenn fie die heutige Sach— 
lage als das nothwendige Produkt einer Kette von Urſachen, als 
etwas hiſtoriſch Gewordenes erkannt hat. Deshalb gibt es keine 
theologiſche Wiſſenſchaft ohne Kirchen- und Dogmengeſchichte, keine 
politiſche Wiſſenſchaft ohne Volks- und Staatengeſchichte, keine 
Nationalökonomie ohne Geſchichte von Handel und Gewerbe; kurz 
jede Wiſſenſchaft hat ihre Geſchichte, und ohne Geſchichte wäre ſie 
nicht das, was ſie iſt, ſie wäre keine Wiſſenſchaft. 

Es kommt aber noch etwas in Betracht. Dieſe Methode, 


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Hiſtoriſche nach den Urſachen zu forſchen, iſt auch die einzige Methode 
a der Praxis. Wenn Sie nicht die Geſchichte eines Dings, oder 
Methode eines Ereigniſſes wiſſen, dann können Sie das Ding auch nicht 
Be machen, das Ereigniß auch nicht hervorbringen. So lang die 
Menſchen z. B. das Glas nur in ſeinem natürlichen Vorkommen 
als Obſidian kannten, nützte ſie dieſer Stoff ſehr wenig; erſt, als 
ſie die Urſache, die Entſtehungsgeſchichte des Glaſes kannten, waren 
ſie im Stande, es zu machen. Ich glaube darüber keiner Worte 
mehr zu bedürfen. Nur das ſage ich noch: Selbſt eine ſogenannte 
zufällig gemachte Erfindung beruht nur darauf, daß der betreffende 
Beobachter den richtigen Cauſalzuſammenhang der Dinge erkannt 
hat. Das iſt eine ſehr wichtige Erkenntniß, und ich bitte Sie, 
geehrte Zuhörer und Zuhörerinnen, das ganz feſtzuhalten: 
Die hiſtoriſche Methode iſt die unerläßlichſte Me— 
thode der Wiſſenſchaft und der Praxis. 
Geſchichts⸗ Während nun alle Wiſſenſchaften ſich dieſer Methode er— 


ee freuten, hat es bis in die neuere Zeit den Anſchein gehabt, als 
Pflanze. ob alle Dinge ihre Geſchichte hätten, nur die Thier- und Pflanzen- 
arten keine. Man ſtand hier vor einem unauflöslichen Cirkel: 

die Henne legt das Ei, aus dem Ei entſchlüpft die Henne, dieſe 


legt wieder ein Ei u. ſ. f. im ewigen Kreislauf, gleich dem der 


Erde um die Sonne. Gegen dieſen geſchloſſenen Cirkel iſt man 
Sturm gelaufen, ſeit es Denker gab, die ſich mit den belebten 
Weſen befaßt haben, und hat ſich in zweierlei Weiſe bemüht, 
ihn zu zerbrechen und dem Thier und der Pflanze ihre Ge— 
ſchichte zu geben. So entſtand die Urzeugungslehre und die 
Abſtammungslehre. ! 


Die Urzeugungslehre jagt, daß das erſte Individuum urzeugungs⸗ 
jeder Thier- oder Pflanzenart nicht geboren worden iſt, nicht aus m 


einem Ei geſchlüpft, ſondern entſtanden, um mich eines geläufigen 


Ausdrucks zu bedienen, aus einem Erdenklos. Dieſe Lehre hatte 
noch im vorigen Jahrhundert, und ſelbſt in den Anfängen dieſes 


Jahrhunderts, eine gewiſſe ſcheinbare Berechtigung; glaubte man 
doch, daß die Maden, die man im faulen Fleiſch findet, dort. durch 
eine Art Urzeugung aus dem im Zerfall begriffenen Fleiſch ſich 
heraus entwickeln; glaubte man doch daſſelbe von den Eingeweide— 


würmern, die in geſchloſſenen Höhlen des menſchlichen Körpers, 
im Augapfel, in geſchloſſenen Ciſten, in der Leber, in den Mus⸗ 
keln u. ſ. f. Haufen. Weiter glaubte man, daß die Flöhe ent- 


ſtänden aus Sägſpähnen und Jauche, die Infuſorien aus faulen⸗ 
gſpäh 


den Flüſſigkeiten, die Mehlwürmer aus dem Mehle ze. Die exakte 
Forſchung hat nun Punkt für Punkt alle dieſe Fälle widerlegt 
und gezeigt, daß in faulem Fleiſch nie eine Made entſtehen kann, 
wenn nicht die Mutter der Maden, die Fleiſchfliege, ihre Eier zu⸗ 
vor auf's Fleiſch legt, daß die Eingeweidewürmer nie in Thier 
körpern vorkommen, wenn nicht die Keime derſelben verſchlungen 
worden ſind oder ſonſt wie eingedrungen, daß endlich in faulen— 
den Flüſſigkeiten ſelbſt nicht einmal Infuſorien entſtehen, wenn 
nicht deren Keime hineinkommen ꝛc. Damit war die Urzeugungs⸗ 
lehre ihrer einzigen thatſächlichen Anhaltspunkte beraubt; aber 
betrachten wir ſie noch näher. 

1) Erklärt fie gar nichts; fie konſtatirt blos die Thatſache, Werthloſig⸗ 
daß es einmal einen Anfang gegeben haben muß; aber welcher 5 50 
Art er iſt, darüber ſagt ſie nichts aus, wenigſtens nichts, was 


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Anſpruch auf eine Erklärung machen kann; denn, geehrte Zu⸗ 


hörerſchaft, wenn Jemand etwas erklärt, fo muß er doch wenig⸗ 
ſtens irgend eine Urſache angeben können, die das Ereigniß mit 
hervorgerufen hat. Die Urzeugungslehre hat aber nichts gethan, 
als die längſt bekannte Thatſache umſchrieben, daß die belebten 
Weſen aus irdiſchen Stoffen beſtehen, ſie hat nur ſtatt des Wört⸗ 
chens „beſtehen“ das Wörtchen „entſtehen“ geſetzt. 

2) Zweitens iſt die Urzeugungslehre praktiſch werthlos. Es 
iſt Niemand gelungen, auf dem Weg der Urzeugung irgend ein 


Thier, oder eine Pflanze zu machen, jedenfalls nicht eine der 


höheren Thier- oder Pflanzenarten. 


Lehre von Die Anhänger dieſer Lehre haben ſich nun aus dieſer Schwie⸗ 
der Unbe⸗ ; | 
ſtändigkeit 
der Natur- möge heutzutage allerdings nicht mehr vorkommen, allein früher 

geſetze 


rigkeit zu retten geſucht durch die Behauptung, die Urzeugung 


ſeien eben die Verhältniſſe anders geweſen, und die jetzigen Natur⸗ 
geſetze haben auch ihre Geſchichte; die ſeien erſt ſpäter in's Leben 
getreten. Es ift dieß die Lehre von der Unbeſtändigkeit der 
Naturgeſetze. Dieſer Lehre können wir nun wieder daſſelbe ent⸗ 
gegenhalten, wie der Urzeugungslehre: 
erklärt 1) Daß damit lediglich nichts erklärt iſt; denn wenn früher 
ihrs andere Geſetze herrſchten, als heutzutage, jo find ja die für uns 
nicht wahrnehmbar. Es iſt appellirt an etwas, was wir niemals 
greifen können, und damit iſt auch nichts erklärt; es iſt ſogar auf 
den Erklärungsverſuch ſelbſt verzichtet, und das iſt das größte 
Armuthszeugniß, das ſich eine Wiſſenſchaft ſtellen kann. 
beweisfällig 2) Diejenigen, welche die Unbeſtändigkeit der Naturgeſetze 
behaupten, find im Sinn des Juriſten beweisfällig geworden. 


11 


Wir halten uns an die Gefege, die heut zu Tage zurecht beſtehen, 
und wer uns ſagt, daß das anders war, muß es beweiſen. Die 
Beweiſe dafür können aber nicht beigebracht werden. Alle Er- 


fahrungen der Erdkunde, alle Erfahrungen der Verſteinerungs— 
kunde haben uns, wo überhaupt über den Cauſalzuſammenhang 
etwas daraus geſchloſſen werden kann, immer enthüllt, daß es 


damals genau mit denſelben Dingen zugegangen iſt, wie heutzutage. 


3) Ein weſentlicher Vorwurf, den man der Lehre von der vernunfts⸗ 


widrig 


Inconſtanz machen kann, iſt aber der, daß ſie ein Attentat gegen 


unſer Denkvermögen enthält. Denn das wurzelt in den heute 


zurecht beſtehenden Naturgeſetzen. Wir können nichts anderes den— 
ken, als das, was uns durch unſere perſönliche Beobachtung an 
die Hand gegeben wird. Verſuche man nur einmal irgend 
ein, und ſei es ſcheinbar noch ſo unwichtiges Naturgeſetz um⸗ 
zuſtoßen, und man wird ſehen, wohin man kommt. Hätte z. B. 
das Waſſer ſtatt bei 49 über Null erſt im Gefrierpunkt ſeine 
größte Dichtigkeit, wäre mithin das Eis ſchwerer als Waſſer, ſo 
müßten alle unſere Meere vom Grund herauf frieren, das ganze 
trockene Land vergletſchern, die Möglichkeit organiſchen Lebens 
hörte auf, nicht minder der Unterſchied der Jahreszeiten, kurz die 
ganzen Verhältniſſe unſeres Erdkörpers kämen aus Rand und 
Band und durch alle unſere Kalkulationen wäre ein Strich 


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gemacht. 

4) Gilt hier das Gleiche, wie bei der Urzeugungslehre: die unprattifg. 
Lehre von der Unbeſtändigkeit der Naturgeſetze iſt nicht praktiſch, | 
denn was wollen Sie damit machen? Geſetze, die heutzutage nicht 


mehr zu Recht beſtehen, können Sie auch nicht gebrauchen. 


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Alſo kurz gejagt, dieſe beiden Lehren find weder wiſſenſchaft— 
lich noch praktiſch von irgend welcher Brauchbarkeit. Solange ſie 
in den Köpfen einiger Gelehrten ſpukten, konnte man am Ende 


nichts gegen dieſe Art von Privatvergnügen haben, allein ſobald 


Jemand verſucht hätte, ſie praktiſch zu machen, ſo wäre ſie ge— 


Abſtam⸗ 
mungslehre. 


Individuelle 
Variation. 


radezu gefährlich für die Geſellſchaft geworden. Wie wäre es, 
wenn ein Dieb, bei dem man eine geſtohlene Uhr findet, ſich auf 
die Lehre von der Urzeugung und der Unbeſtändigkeit der Natur⸗ 
geſetze berufen und behaupten würde, er habe ſie von einem 
Apfelbaum gepflückt, oder ein Landſtreicher, um ſeinen Taufſchein 
befragt: er ſei durch Urzeugung in einem Straßengraben entjtan= 
den. Bei dieſen Lehren hört alſo nicht blos der Verſtand, ſon— 
dern auch die geſellſchaftliche Ordnung auf. 

Dieſer Lehre gegenüber ſteht die Abſtammungslehre. 
Sie iſt aufgebaut auf den heute zu Recht beſtehenden Natur- 


geſetzen, ſie geht von der tauſendfältig erhärteten, nie beſtrittenen 


Thatſache aus, daß organiſche Weſen geboren werden müſſen, und 


hat gegen den geſchloſſenen Kreis vom Ei zur Henne und von 
der Henne zum Ei in der Weiſe operirt, daß ſie ſagt: Es iſt 
kein Kreis, ſondern eine Spirale. Die Henne, welche aus dem 
gelegten Ei hervorkommt, iſt allerdings ihrer Mutter ähnlich; aber 
fie iſt ihr nicht ganz gleich, ſondern ein klein wenig von ihr ver⸗ 
ſchieden. Daß dem ſo iſt, kann Ihnen jede Bauernmagd ſagen, 
die ihre Hühner perſönlich 1 und jeder Schäfer, der ſeine 
Schafe mit Namen zu rufen im Stande iſt. 

Von dieſer Thatſache aus, daß das Kind nie ſeinen Eltern 


abſolut gleich iſt, eine Thatſache, die wir im Verlauf unſeres Vor⸗ 


13 


trags „individuelle Variation“ nennen wollen, ift die Ab— 


ſtammungslehre aufgebaut worden. Man ſagt: 

Wenn von Generation zu Generation auch nur ein Minimal- 
unterſchied beſteht, aber dieſe Unterſchiede nach einer beſtimmten, 
vom Ausgangspunkt ſich entfernenden Richtung hin ſich ſummiren, 
ſo kann der Nachkomme im hundertſten Glied von ſeinem Ahnen 
beträchtlich verſchieden ſein, trotzdem, daß zwei Generationen nie 
mehr von einander verſchieden ſind, als je ein Vater von ſeinem 
Kind. Das iſt die Lehre von der Wandelbarkeit der Form 
der Lebeweſen. Weiter ſagt man: 

Da dieſe Unähnlichkeiten zwiſchen Kind und Eltern nie gleich 
ſind, ſondern auch die Kinder unter einander ſich unterſcheiden, ſo 
kann jedes Weſen, welches mehrere Junge erzeugt, der Mittelpunkt 
von divergirenden Linien werden, und zwar von ebenſovielen, 
als es Kinder beſitzt. Das iſt der Satz von der Divergenz des 
Charakters, die parallel geht der Divergenz des Stammbaums. 
Alſo z. B. das eine Kind unterſcheidet ſich von ſeinen Erzeugern 


Divergenz 
des Charak⸗ 


ters. 


dadurch, daß es im Ganzen größer iſt; das zweite unterſcheidet 


ſich dadurch, daß nur irgend eines ſeiner Organe eine höhere 
Ausbildung hat, das dritte unterſcheidet ſich wieder in einer 
andern Weiſe u. ſ. f. Wenn nun in den Nachkommen der folgen— 
den Generationen bei jedem dieſer Kinder ſich dieſe Abweichungen 
in der gleichen Weiſe, d. h. im Sinne einer Steigerung, wieder— 
holen, ſo iſt das Urweſen der Mittelpunkt von drei oder vier weit 
auseinanderſtrahlenden Generationsfolgen geworden. Es iſt klar, 
daß bei dieſer Auffaſſung der Geſchichte von Thier⸗ und Pflan⸗ 
zenarten ein einziges Urweſen genügt, das auf dem Weg der all— 


14 


mäligen Abänderungen unter fortwährender Divergenz durch feine 
Nachkommenſchaft die große Mannigfaltigkeit von Thier- und Pflan⸗ 
zenreich erzeugt *). 


*) Zu weiterem Verſtändniß des Leſers will ich einen kurzen Abriß des 
Entwicklungsganges geben. 

Der erſte Akt war wohl die Entſtehung von lebloſen Eiweißverbin— 
dungen; durch individuelle Variation bildeten ſich allmälig lokale Verſchie⸗ 
denheiten unter ihnen, ähnlich, wie wir heute Käſeſtoff, Eiweiß, Faſerſtoff, 
Muskelſtoff ꝛc. unterſcheiden. Durch paſſive Wanderung wurden dieſe ohne 
Zweifel im Waſſer aufgetretenen halbflüſſigen Stoffe unter einander gemengt, 
durchdrangen ſich, und ſo entſtand jenes Gemenge von Eiweißſtoffen, das 
jetzt die lebendige Subſtanz aller Thier- und Pflanzenkörper bildet, das. 
Protoplasma (zu deutſch Urbildungsſtoff). Das Lebendigſein, d. h. die Fähig⸗ 
keit zu empfinden, ſich zu bewegen und zu ernähren, beruht eben darauf, 
daß es ein Gemenge chemiſch verſchiedener Subſtanzen iſt, indem ſich hier⸗ 
aus ſeine elektriſchen Eigenſchaften erklären. Sicher iſt die ſo erlangte active 
Beweglichkeit eine der Urſachen, daß dieſes Protoplasma ſtatt große Klumpen 
zu bilden, in ſehr kleine Tröpfchen ſich zerſpaltete. So wurden jene heute 
noch in unſern Waſſern lebenden einfachſten Geſchöpfe, deren bekannteſte 
die Zoologen Amöben nennen. Von ihnen entſtanden als Seitenzweig des 
Stammbaums die ſchalentragenden Wurzelfüßer, die wir kurzweg Geſell⸗ 
ſchaften von Protoplasmatröpfchen nennen können, (beſtätigend iſt, daß das 
älteſte bis jetzt aufgefundene verſteinerte Thier ein Wurzelfüßer iſt). Die 
nächſte Entwicklungsſtufe war die Umwandlung der amöbenartigen Weſen 
in eigentliche Zellen, und zwar von zweierlei Sorte: nackt und darum be⸗ 
weglich bleibende thieriſche Zellen (kurzweg Infuſorien) und ſolche, die 
ſich einkapſelten und mithin regungslos wurden; die letzteren waren die 
Wurzel des Stammbaums der Pflanzen, die ſogenannten einzelligen 
Algen. Aus den einzelligen Weſen wurden durch Vergeſellſchaftung der 


7 


Wenn wir nun dieſe Abſtammungslehre vergleichen mit der Vergleichung 
beider 


Urzeugungslehre, um uns zu fragen: Welcher ſollen wir uns 


Lehren. 


8 


Zellen die Mehrzelligen, und hier tritt bei den Pflanzen ſogleich eine aufer- 
ordentliche Mannigfaltigkeit und damit eine reiche Divergenz in viele Stamm— 
baumzweige ein. Bei den Thieren erzeugte die Vergeſellſchaftung anfangs 
regelloſere Zellhaufen von Lückennezen durchſetzt: die Schwämme. So⸗ 
bald aber die einzelnen Zellen eines ſolchen Haufens in der erſten Zeit ſtille 
hielten und ſo eine Sonderung in regungsloſe Rindenzellen und bewegliche 
Binnenzellen eintreten konnte, war dem Zellhaufen geregelte Form und 
geregeltes Wachsthum verliehen; namentlich griff eine regelmäßige concen- 
triſche Schichtung Platz und ſo entſtanden die einen einfach hohlen Sack 
vorſtellenden Polypen, die als Seitenzweige aus ſich die Steinkorallen 


und die Moospolypen entwickelten; an den letztern ſproßten als Seitenzweig 
zweiter Ordnung die Quallen. Durch einen weiteren Akt concentriſcher 
Schichtung entſtanden aus den einfach hohlen Thieren die doppelthohlen, die 
aus Leib und Darm zuſammengeſetzten, als deren einfachſte Dauerform 
etwa die ſogenannten Bryozoen angeſehen werden dürfen. Hier iſt der 
Knotenpunkt, von dem etwa drei Hauptzweige ausgehen, nämlich die längs⸗ 


gegliederten Thiere, und zwar zunächſt die Würmer, dann durch einen 


Akt der Knospung dem ähnlich, durch den die Quallen von den Moos- 
polypen abzweigten, die darmtragenden Strahlthiere, und endlich 
der reich ſich weiter gliedernde Seitenzweig der Weichthiere. Aus. dem erſten 
dieſer drei Stämme, den Würmern, erhoben ſich außer einigen Seitenzwei⸗ 
gen zwei Hauptſtämme, die Wirbelthiere, die mit den Knorpelfiſchen an- 
fingen, als Seitenzweig die Knochenfiſche und als aufſteigenden Schoß die 
Amphibien trieben. Den letzteren entſproßten zunächſt Reptilien wieder mit 
vielen Seitenzweigen, aus deren einem die Vögel, aus deren anderem die 


Säugethiere ſich entwickelten. Von denen erſchienen zuerſt die Beutelthiere, 


denen Huf⸗ und Krallenthiere als zwei immer weiter divergirende Linien 
1 7 


„ 


zuwenden, und von welcher ab, ſo handelt es ſich nicht um die 
Antretung des juridiſchen Beweiſes für die abſolute Richtigkeit 
der einen oder andern, denn wir ſind noch lange nicht ſo weit, 


daß wir jetzt ſchon eine Theorie erwarten können, die alles erklärt; 


wu 


| gewiſſe Unvollkommenheiten kleben noch jeder Theorie an, ſelbſt der 
berühmten Undulationstheorie, welche der Phyſiker benützt, um die 
Erſcheinungen von Licht, Schall, Wärme u. ſ. f. zu erklären. Alſo 
es handelt ſich nur um die relative Werthſchätzung. In dieſer 


Beziehung müſſen wir ſagen, daß die Abſtammungslehre folgende 
Punkte erklärt, oder wenigſtens begreiflich macht, welche die Ur— 
zeugungslehre abſolut im Dunkeln läßt. 
Was erklärt Ich werde dieſe Punkte der Reihe nach durchgehen, bemerke 
Me aber noch einmal, daß das, was ich hier ſage, Ihnen noch nicht 


das volle Verſtändniß der Lehre geben kann, da erſt Darwin die 


vollkommene Klarheit gebracht hat; ich möchte jagen, die Ante— 
darwinianer, d. h. die, welche vor Darwin der Abſtammungstheorie 
anhingen, hatten die Schlüſſel zur Erklärung der Dinge wohl in 
der Hand, aber fie fanden in den Hauptpunkten, auf die es an- 
kam, das Schlüſſelloch nicht. 


1) Die neber⸗ Der erſte Punkt, der uns klar wird, wenn wir alle Orga— 


* 


N nismen, Thiere und Pflanzen aus einer Quelle ableiten, iſt die 
x Sub⸗ 


fan. Uebereinſtimmung in der Subſtanz aller Thiere und Pflanzen. 


entſtanden, die letztere derſelben löste ſich durch Divergenz auf in die Raub⸗ 
thiere, Nagethiere und Vierhänder, und unter den letzteren iſt der Ahnherr 
des Menſchen zu ſuchen. Ausführlicher handelt hierüber: Ernſt Häckel, 
natürliche Schöpfungsgeſchichte. | 


1% 


Sie beſtehen, in ſo weit es ſich um die beim Lebensprozeß activ 
betheiligte Subſtanz handelt, aus einen Stoff, den die Botaniker 
und Zoologen jetzt mit dem gemeinſchaftlichen Namen Proto⸗ 
plasma belegen. Aus dieſem Stoff beſteht jedes Ei eines 
| Thieres, jede Keimzelle einer Pflanze, und alle Zellen, aus 
welchen ſpäter Thier- und Pflanzenleiber ſich aufbauen, enthalten 
in ihrem Innern immer noch einen Tropfen dieſes Protoplasma, 
und nur ſo lang der darin iſt, lebt die Zelle. Iſt dieſes Pro- 
toplasma chemiſch verändert, eingetrocknet, geſchmolzen, zu Grund 
gegangen, ſo haben Sie von einer Zelle höchſtens noch den leeren 


Balg, wenn fie überhaupt noch eine Spur ihres Daſeins hinter⸗ 
laſſen hat. Dieſes Protoplasma iſt eine zähe, gleich Hühner-Eiweiß 
fließende Maſſe, in welcher feine Körnchen von “100 — ½000 Linie 
Durchmeſſer ſich hin und her bewegen, und zwar deshalb hin und 
her bewegen, weil ſie mit electriſchen Gegenſätzen behaftet ſind. 


Wenn Sie ein ſolches Protoplasma in Berührung mit anderen 
Stoffen bringen, oder Kräfte auf daſſelbe einwirken laſſen, Licht, 
Wärme, Electricität, ſo wird das elektriſche Gleichgewichtsverhält— 
niß zwiſchen dieſen Molekülchen geſtört: es erfolgt eine Lage⸗ 
veränderung derſelben und damit eine Geſtaltsveränderung des 
ganzen Tropfens, die nach dem Aufhören des Reizes, ſofern der— 
ſelbe keine Zerftörung der Subſtanz bewirkte, einer zweiten Ge— 
ſtaltsveränderung Platz macht. Die Erſcheinung nennt man die 
Reizbarkeit oder Contractilität des Protoplasma. 

Es würde mich zu weit führen, wollte ich noch ausführlicher 
ſprechen über die Conſtruktion des Protoplasma in chemiſcher und 


phyſiologiſcher Beziehung. Es möge Ihnen genügen, daß alle 
2 


4 
Li 
= 
N 1 
Ei 
| 
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Ei 
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| 
$ 


Er 


18 


lebendigen Weſen aus dieſem Protoplasma hervorgegangen und 
heute noch in ihrem Eizuſtand nichts anderes ſind, als ein ſolcher 
Tropfen Protoplasma. Dieſe Thatſache läßt ſich nur erklären, 
wenn wir annehmen, daß alle belebten Weſen aus der gleichen 


Quelle ſtammen. Es wird alſo die Frage nach der Entſtehung 


der Lebeweſen überhaupt dahin vereinfacht, daß man ſagt: Es iſt 
auf chemiſch-phyſikaliſchem Wege nachzuweiſen, wie Kohlenſtoff, 
Stickſtoff, Waſſerſtoff, Schwefel und Phosphor zuſammentreten zu 
jener complicirten chemiſchen Verbindung, die wir Protoplasma 
nennen. Welche Schritte die Wiſſenſchaft in dieſer Beziehung 
ſchon gemacht hat, würde uns gleichfalls wieder zu weit führen. 
Ich ſage nur eines. Während man noch vor wenigen Decennien 
keinen einzigen der ſogenannten organiſchen Stoffe, aus denen das 
Thier oder die Pflanze zuſammengeſetzt iſt, künſtlich aus unorga⸗ 
niſchem Stoffe machen konnte, werden jetzt viele ſolcher Verbin⸗ 
dungen hergeſtellt, und es fragt ſich nur noch, wie man die Ei— 
weißſtoffe macht, aus denen das Protoplasma zuſammengeſetzt iſt ). 


CCC * 


*) Ich ſetze das Einſchlägige bei aus Schleiden, Geſchöpfe des Meeres: 
„Die Darſtellung eines organiſchen Stoffes aus den unorganiſchen Elemen⸗ 
ten hielt man geradezu für eine Unmöglichkeit (Berzelius), und die wirkliche 
Darſtellung zweier ſolcher Stoffe, des Harnſtoffs durch Wöhler, der Eifig- 
ſäure durch Kolbe, wurde als unwichtig zurückgewieſen, „weil beide als Aus⸗ 
wurfs⸗ und Zerſetzungsprodukte ſchon auf der Grenze der unorganiſchen Welt 
ſtänden“ (Berzelius). Aber ſeit dem Anfang der zweiten Hälfte unſeres 
Jahrhunderts begann mit den Arbeiten des franzöſiſchen Chemikers Berthe⸗ 
lot eine neue Epoche. Fußend auf die Kenntniß der bereits von andern 


Chemikern dargeſtellten nähern Beſtandtheile der organiſchen Stoffe, ſchlug 


19 


Der zweite Punkt, der begreiflich wird durch die Abſtam⸗ 2) ueberein⸗ 
ſtimmung 
im Bau. 


mungslehre, iſt die Uebereinſtimmung in der feineren und grö⸗ 


er einen neuen Weg der Zuſammenſetzung ein. Beſonders kann man eine 
ganze Reihe wichtiger organiſcher Stoffe als hervorgegangen aus der Ver⸗ 
einigung gewiſſer Kohlenwaſſerſtoffverbindungen (C,H) mit andern Elementen 
anſehen. Einer ſolchen Reihe gehört z. B. der Alcohol an, der eine Ber- 
bindung des ſogenannten ölbildenden Gaſes (Leuchtgas) mit Sauerſtoff iſt. 
Es gelang nun zunächſt, dieſe Kohlenwaſſerſtoffverbindungen aus rein un⸗ 
organiſchen Elementen darzuſtellen und Berthelot erhielt ſo namentlich das 
Sumpfgas, das ölbildende Gas, das Propylen u. a. Dieſe dann in verſchiede⸗ 
ner Weiſe mit Sauerſtoff (0) verbunden, ließen aus dem Sumpfgas unter an⸗ 
derem: ätheriſche Oele, Ameiſenſäure, Blauſäure ꝛc., aus dem ölbildenden Gas: 
gewöhnlichen Alcohol, Aetherarten, Eſſigſäure, Leimzucker, Milchſäure ꝛc., 
aus Propylen: Butterſäure und viele andere Stoffe entſtehen. Die durch⸗ 
gehend in allen organiſchen Körpern vorkommenden Fette zerfallen bei ge⸗ 
wiſſen Behandlungen in Fettſäuren (Stearinſäure, woraus unſere Stearin⸗ 
kerzen beſtehen, Oelſäure ꝛc.) und in das jetzt ſo vielfach auch bei den Toi⸗ 
lettekünſten verwendete Oelſüß oder Glycerin (Chevreul). Berthelot lehrte 


beide Subſtanzen wieder zu den natürlichen Fetten verbinden. Es iſt ihm 


gelungen, Fettſäuren und zuckerartige Stoffe aus unorganiſchen Elementen 


zu erzeugen. So iſt die künſtliche Darſtellung von Fetten und von Stoffen, 
welche der Amylumreihe angehören, gelungen. Endlich glückte es auch mit 
dieſen ternären Verbindungen, wie man fie nennt, (aus C,H, O beſtehend), 
noch das vierte Element, den Stickſtoff, zu vereinigen und ſo quaternäre 
Verbindungen (C,H, O, NJ) zu erhalten; dieſe waren zunächſt freilich nur Stoffe 
aus der Reihe der chemijc genauer bekannten Alcaloide, und die Reihe der 
eiweißartigen Stoffe, die zweifellos wichtigſte in der organiſchen Welt, ſtellt 
an den Chemiker allerdings noch ungelöste Aufgaben. Aber die Möglichkeit 


ihrer Löſung liegt jetzt klar vor, und zunächſt trägt unſere mangelhafte Kennt⸗ 
5 


20 


beren Zuſammenſetzung von Thier und Pflanze. Alle beſtehen 
nämlich aus ſogenannten Zellen, d. h. aus Tröpfchen dieſes Pro⸗ 


niß von den eiweißartigen Stoffen, von ihrer eigentlichen innern Zuſammen⸗ 


ſetzung aus nähern (2) Beſtandtheilen die Schuld, daß man auf ihre Dar⸗ 
ſtellung die Berthelot'ſchen Methoden noch nicht anwenden kann. Unſere 
Kenntniß der Albuminoide ſteht auf derſelben Stufe, wie unſere Kenntniß 
der Fette vor Chevreul. Berthelots glänzende Entdeckungen ſind von un⸗ 
berechenbarer Tragweite, die eine ganze und, wir möchten ſagen, die wich⸗ 
tigere und intereſſantere Hälfte der Chemie, die Chemie der organiſchen 
Stoffe begreift, und dieſer damit plötzlich eine andere Stellung, andere Auf⸗ 
gaben, andere Ziele gibt. Und welche Mittel wendete Berthelot an, um zu 
ſeinen Reſultaten zu gelangen? Er ſchloß abſolut unorganiſche Stoffe, bald 
Kohlenſäure, bald Kohlenoxydgas, bald kohlenſaure Salze mit Waſſer, bald 
auch noch mit Salzſäure hermetiſch in einen Glaskolben ein, ſetzte dieſelben 
längere Zeit, ſelbſt Monate lang, einer hohen Temperatur bis 200° und 
darüber aus und die organifche Subſtanz war gebildet. Er ſelbſt legt bei 
ſeiner Methode den Hauptwerth auf die längere Zeit der Einwirkung, auf 
die hohen Temperaturen, auf den Verſchluß, der theils mechaniſch durch den 
größern Luftdruck, theils dadurch wirke, daß die Stoffe, die ſich mit einan⸗ 
der verbinden ſollten, längere Zeit in inniger Berührung gehalten wurden. 
Vergleichen wir damit das Urmeer, wie wir es oben geſchildert haben. Der 
ſtarke Druck der dichten Atmoſphäre erlaubt vielen flüchtigen Subſtanzen 
nicht, zu entweichen, die Temperatur iſt hoch über dem Siedepunkt, dieſe. 
Zuſtände dauern Jahrhunderte und Jahrtauſende fort. Das Urmeer enthält 
aufgelöst alle Salze, die etwa Berthelot anwenden konnte. Sauerſtoff iſt 
unter ſtarkem Druck vorhanden. Der Kohlenſtoff möchte noch eine Schwie⸗ 
rigkeit zu machen ſcheinen. Aber wie auch derſelbe im kosmiſchen Nebel, 
aus welchem ſich unſer Sonnenſyſtem bildete, enthalten geweſen ſein mag, 
eine Frage, deren Beantwortung uns gleichgiltig ſein kann, da wenigſtens 


21 


toplasma's, jo wie ein Mauerwerk aus Steinen gebaut ift. Bei 


den Pflanzen ſind dieſe Tröpfchen eingeſchloſſen in ſtarre Kapſeln 
aus Holzſubſtanz; bei den Thieren treten höchſtens Kapſeln aus 
einer leimgebenden Subſtanz hinzu, kurz, alle Unterſchiede zwiſchen 
Thier und Pflanze, zwiſchen den Thieren unter einander redu⸗ 
ciren ſich: 

Erſtens auf die Zahl dieſer einzelnen ſogenannten Elementar⸗ 
organismen. Wir haben Thiere und Pflanzen, welche nur eine 
einzige Zelle ſind, wir haben ſolche, die zwei ſind, die drei ſind, 
und das geht fort bis in unausſprechbare Zahlen, wie Sie ſich 
vergegenwärtigen können, wenn Sie denken, daß allein im menſch⸗ 
lichen Blut mehrere tauſend Billionen ſolcher Körnchen, ſolcher 
Zellen kreiſen. 


gegenwärtig keine Aufgabe vorliegt, die dadurch entſchieden werden könnte, — 
ſo viel iſt gewiß, daß in dem Zuſtand der Erde, von dem wir uns noch 
einen wiſſenſchaftlichen Begriff zu machen im Stande ſind, in Berührung 
mit Sauerſtoff und in der hohen Temperatur nur als Kohlenoxyd oder als 
Kohlenſäure exiſtiren konnte, und daß letztere ſich nothwendig bei ihrer hohen 
chemiſchen Verwandtſchaft zu den Baſen mit Alcalien und Erden, flüchtigen 
und nicht flüchtigen, verbinden mußte. So ſtellt alſo die Erde in dieſer 
Periode ihrer Bildung, in der Urzeit, ganz genau den verſchloſſenen Kolben 
Berthelots dar. Wir begreifen nicht nur die Möglichkeit der Bildung orga⸗ 
niſcher Subſtanz, ſondern finden geradezu die Bedingungen, unter welchen 
die Bildung derſelben eine unvermeidliche Nothwendigkeit war. Damit war 
aber der Anfang und der Ausgangspunkt für die Entwicklung beider orga⸗ 


niſchen Reihen der Pflanzen- und Thierwelt gegeben. Und jo ſchließen wir 
dieſe Betrachtungen getroſt mit dem Spruche des Thales: „Das Meer iſt 


die Mutter und die Wiege alles Lebendigen.“ 


TEE TEE EEE ERBE EEE ET 


r 


Zaire ——— ͤ——-— — —ñ—ñ—ñ— Ameisen nie 2 ne 


22 


Zweitens beruht fie auf der verſchiedenen Qualität dieſer 
Zellen. 


Drittens auf der Verſchiedenheit ihrer Gruppirung, die wie⸗ 
der abhängt von der Art und Weiſe ihres Vermehrungsprozeſſes 


und den nachträglichen Verſchiebungen und Wanderungen der Zellen 


innerhalb des Zellgemeinweſens. 

Dieſe Uebereinſtimmung in der feineren Zuſammenſetzung 
deutet auf einen gemeinſchaftlichen Urzuſtand hin und darauf, daß 
alle aus dieſer Quelle auf eine und dieſelbe Weiſe ſich herauf 
entwickelt haben, nämlich ſo: dieſe Zellen, die die Fähigkeit fort⸗ 
währender Vermehrung haben, find, während ſie anfänglich ein- 
zeln ſchwärmten, allmälig zu größeren Geſellſchaften zuſammen⸗ 
getreten, die je nach den Verhältniſſen die oder jene Form ange- 
nommen haben; wir werden hierauf ſpäter noch einmal zurückkom⸗ 
men. Auch die Uebereinſtimmung in der gröberen anatomiſchen 


Zuſammenſetzung wird verſtändlich, denn wie wollen Sie erklären, 


daß wir aus demſelben Fleiſch beſtehen, wie jedes Säugethier, 


daß unſer Blut gleich zuſammengeſetzt iſt, wie das Blut eines 
Vogels, daß unſere Haare keinen andern Bau haben, als die 
eines haartragenden Thieres, daß die Federn aller Vögel in 


ihrem mikroſkopiſchen und gröberen Bau mit einander übereinſtim⸗ 


39) Das Vor⸗ 


kommen ver⸗ 
kümmerter 
Organe. 


men; kurz ich müßte Ihnen die ganze Anatomie herzählen, um 
Ihnen zu zeigen, wie wir überall Uebereinſtimmungen haben, die 
uns auf einen genealogiſchen Zuſammenhang hinweiſen. 

Der dritte Punkt iſt ein ſehr wichtiger, und er ſowohl, als 


ein folgender verlangt eine Vorausnehmung deſſen, was uns erſt 


durch Darwin vollkommen klar geworden iſt. 


23 


Es handelt ſich bei der Abſtammungslehre, wie Sie ſchon 
aus dem Eingangs Geſagten entnehmen konnten, um zwei in 
gewiſſem Widerſtreit mit einander ſtehende Vorgänge. Die Geſetze 
der Erblichkeit verlangen, daß das Kind feinen Erzeugern voll- 
kommen gleich werde; die individuelle Variation verhindert, daß 
dieſe Gleichheit jedesmal mathematiſch genau erreicht wird. Nun 
beſtehen die Unterſchiede zwiſchen dem Kind und ſeinen Erzeugern 
und zwiſchen dem Kind und ſeinen Geſchwiſtern im weſentlichen 
darin: Einzelne oder mehrere Körperorgane ſind bei dem einen 
in ihrem Wachsthum auf einer beſtimmten Stufe ſtehen geblieben; 
bei den andern haben ſie dieſe Stufe um eine Haupteslänge über⸗ 
ſchritten, und beim dritten find fie um eine Haupteslänge zurück⸗ 
geblieben. Die individuelle Variation beſteht alſo in 
einer Oscillation auf einer Scala des Wachsthums. 


Allerdings kommen auch noch andere Arten der Variation vor, 


aber zunächſt haben wir es nur mit dieſer Einen und, merken 
Sie wohl, einer der wichtigsten zu thun. 

Wenn nun die individuelle Variation darin beſteht, daß ein 
Organ in der nächſten Generation entweder in ſeinem Wachsthum 
zurückbleiben, oder darüber hinausgehen kann, ſo iſt zweierlei denkbar. 

Erſtens, wenn das Zurückbleiben eines Organs im Wachs⸗ 


thum ſich ſtätig von Generation zu Generation wiederholt, ſo wird 
es ſchließlich in der hundertſten Generation nur noch ein Rudiment 
von dem ſein, was es urſprünglich war. Solche rudimentäre 
(verkümmerte) Organe haben Sie nun, man kann wohl ſagen, bei 
jeder Thier- und Pflanzenart. Es gibt kaum ein Organ, welches 
ſich nicht bei irgend einem Weſen in einem verkümmerten Zuſtand 


24 


vorfindet. So haben wir z. B. am Darmkanal des Menſchen 
den ſogenannten Wurmfortſatz, ein Anhängſel, das für uns ledig⸗ 
lich bedeutungslos iſt. Das iſt nichts anderes, als ein verküm⸗ 
merter Blinddarm, wie er bei pflanzenfreſſenden Thieren in ſehr 
großer Entwicklung und in voller Funktion getroffen wird. So 
beſitzen unterirdiſch in Höhlen lebende Thiere Augen, trotzdem, daß 
fie nicht ſehen können; die Augen find aber verkümmert. Das 
erklärt ſich ſofort, wenn man erwägt, daß ein Organ, welches 
durch viele Generationen hindurch nicht mehr gebraucht wird, ſomit 
des im Gebrauch liegenden Wachsthumsreizes entbehrt, auch im 
Wachsthum zurückbleibt. So finden Sie weiter bei unſern Hun⸗ 
den an den Hinterbeinen Zehen, die das Thier ohne Schaden 
verlieren kann, und mit denen es gar nichts machen kann, die ihm 
höchſtens in ſeinem Broderwerb hinderlich ſind. So hat die 


Blindſchleiche ein Schultergerüſte, trotzdem, daß ſie keine Arme 


4) Die 
ſtammbaum⸗ 
artige An⸗ 
ordnung der 
Lebeweſen. 


hat; ſo haben die Jungen der Walfiſche in ihren Kiefern Zähne, 
die niemals aus dem Zahnfleiſche hervorbrechen, mit denen das 
Thier nie beißen kann, die nach einer beſtimmten Periode des 
Lebens ſogar ſpurlos wieder verſchwinden, ohne jemals funktionirt 
zu haben. So gibt es männliche Thiere, die Fruchthälter be⸗ 
ſitzen, trotzdem, daß ſie niemals eine Frucht zu beherbergen haben. 
Kurz, wo Sie hingreifen in Thier- oder Pflanzenreich, finden Sie 
derlei verkümmerte Werkzeuge. 

| Ehe wir an das Zweitens, die Uebereinſtimmung der Em⸗ 


bryonen kommen, wird es zweckmäßig ſein, einen andern Punkt 


einzuſchalten, nämlich die ſtammbaumartige Anordnung, welche 
die Lebeweſen zeigen. 


25 


Greifen Sie hin, wo Sie wollen, in Zoologie und Botanik, 
ſo finden Sie ſolche Verhältniſſe, wie ich ſie Ihnen hier an der 
Tafel zeigen will (ſiehe Fig. 1). 


a 0 eee 
Fung 


beg 


Denken Sie ſich den Punkt (a) als Feldſperling, (b) als 
Hausſperling, (e) als Steinſperling; dann (d) als Buchfinken, 
(e) als Tannenfinken und (k) als Schneefinken; (8) als Gold⸗ 
ammer, (bh) als Zaunammer und (i) als Grauammer, (k) als 


Lerchenſpornammer, ( als Schneeſpornammer. Der Zoologe ver⸗ 
bindet nun a, b und e mit einander zu dem Genus (1) der Sper⸗ 
linge, d, e und f zu dem Genus (2) der Edelfinken. Dieſe zwei 
Genera verbindet er mit noch mehreren andern, die ich der Ein— 
fachheit halber weglaſſe, wieder zu einem Ganzen: der Familie der 
Fringilliden (J), dann verbindet er g, h, i zu dem Geſchlecht der 
Ammern (3), k und ! zu dem Geſchlecht der Spornammern (4); die zwei 


5) Aehnlich⸗ 
keit der 
Embryonen. 


26 


letztgenannten Geſchlechter ſetzt er zur Familie der Ammern (II) und 
dieſe mit der Familie der Fringilliden wieder zu einem Ganzen: 
der Ordnung der Kegelſchnäbler (A) zuſammen. Urtheilen Sie nun 
ſelbſt, ob das nicht genau dieſelbe Figur iſt, wie die einer Stamm⸗ 
tafel. a, b, e find die Nachkommen des gemeinſchaftlichen Vor⸗ 
fahren (1), d, e, f die des gemeinſchaftlichen Vorfahren (2), 
g, h, i ſtammen von Nr. 3, k, 1 von Nr. 4. Der Urſperling (1) 
und der Uredelfink ſind die Nachkommen des Urfinken (I), alle 
Ammern die der Urammer (II) und dieſe zwei find wieder zurüd- 
zuführen auf einen Urkegelſchnäbler (4). Dieſe ſtammbaumartige 
Anordnung der Thiere und Pflanzen bleibt nach der Urzeugungs⸗ 
lehre abſolut unverſtändlich, während es nach der Abſtammungs— 
lehre gar nicht anders ſein kann. 

Der fünfte Punkt, den ich ſchon berührt habe, iſt die Aehn⸗ 
lichkeit der Embryonen. 


Wenn Sie das Junge aus einem Vogelei in einem gewiſſen 
Zuſtand ſeiner Entwicklung vergleichen mit dem Jungen eines 
Hundes im Mutterleib, oder mit dem einer Schildkröte im Ei, ſo 
können Sie dieſe drei durchaus nicht unterſcheiden. Es ſieht eines 
aus wie das andere, ſo daß der berühmte Embryologe Bär ſagte: 


„Es kann Niemand unterſcheiden, ob ein Embryo, der noch ſeine 
Kiemenſpalten hat, einem Vogel, einem Säugethier oder einem Reptil 
angehört.“ Und wenn Sie die nebenſtehende Figur 2 betrachten, 
auf der in a der vierwöchentliche Fötus eines Hundes, in b der 
gleichalterige eines Menſchen abgebildet iſt, ſo wird es Ihnen 
ſehr ſchwer fallen, einen Unterſchied herauszufinden. Dieſe That⸗ 
ſache erklärt ſich wieder nur durch die Abſtammungslehre. 


27 


Ich habe Ihnen beim dritten Punkt gefagt, daß ein Organ 
im Wachsthum zurückbleiben kann gegen den Punkt, den die Vor⸗ 
fahren in Bezug auf dieſes Organ erreichten; es kann aber auch 
das Entgegengeſetzte eintreten: das Kind kommt um ein Stück 
darüber hinaus. Was heißt das: Darüberhinauskommen? Es 
heißt, daß dieſer Nachkomme den Zuſtand ſeines Vorfahren er⸗ 


„ 
. 
55 


Vierwöchentlicher Fötus eines Hundes, 
b gleichalteriger Fötus eines Menſchen. 


reicht; aber anſtatt auf ihm ſtehen zu bleiben, ein Schrittchen 
darüber hinausgeht. Er iſt alſo in einem gewiſſen Zuſtand gerade 
ſo beſchaffen, wie ſein Erzeuger; aber er überſchreitet ihn. Ein 
Zuſtand, der bei ſeinem Erzeuger ein bleibender war, iſt bei ihm 
eine vorübergehende Entwicklungsſtufe. Wenn nun das 
von Generation zu Generation ſo fortgeht, wenn jede einſt bleibende 


28 


Stufe eines Organs herabſinkt Fer eine Entwicklungsſtufe, welche 
der Nachkomme mit unweigerlicher Sicherheit immer durchlaufen 
muß, und wenn dieſe Stufen der Zeit nach ebenſo aufeinander 
folgen, wie ſie im Laufe der Generationen auf einander kamen, 
ſo iſt in letzter Conſequenz die Entwicklung eines einzigen Lebe⸗ 
weſens aus dem Ei bis zum Erwachſenen nichts anderes als eine 
Repetition ſeines Stammbaums. Nun, wenn beiſpielsweiſe 


der Buchfink ſeinen ganzen Stammbaum im Lauf der Entwicklung 


repetirt, dann iſt er in einem gewiſſen Jugendzuſtand ſeinem 
Stammvater (2) ähnlich oder gleich; noch früher dem Stamm— 
vater I, Gilt jetzt das Gleiche für den Sperling, daß er in 
einem gewiſſen Jugenzuſtand ſeinem Vorfahren Nr. 1, noch früher 
ſeinem Vorfahren I gleicht, To begegnen ſich in dieſem letzteren 
Punkt Sperling und Fink, d. h. fie find in einem gewiſſen Jugend— 
zuſtand ſchwieriger von einander zu unterſcheiden, als im erwach— 
ſenen. Da nun Finken und Ammern auch den Zuſtand des 
Stammvaters (A) durchlaufen, jo werden in einem noch weiter 
zurückliegenden Jugendzuſtand auch Finke und Ammer ſo ſehr 
einander gleichen, daß man fie kaum unterſcheiden kann, und | 
iſt es auch. Wenn Sie ſich nun denken, daß alle Thiere, die einen 
gemeinſchaftlichen Stammvater haben, die Form dieſes Stamm— 
vaters in ihrer perſönlichen Entwicklung vorübergehend wiederholen, 
ſo müſſen ſie in dieſer Altersſtufe einander gleichen. Das iſt eine 
höchſt merkwürdige Thatſache, die auf einem andern Weg, nämlich 
dem der Urzeugung, ſich lediglich nicht begreifen läßt, um ſo 
weniger, wenn wir ſehen, daß manchmal in einem ſolchen Entwick— 


lungsgang Zuſtände vorkommen, welche viel complicirter, viel 


29 


höher geartet find, als das Ziel, an dem das Erwachſene an— 
kommt. So gibt es ſchmarotzende Krebſe, die ſich in ihrer Kind⸗ 

heit ausgebildeter Bewegungswerkzeuge erfreuen, Augen beſitzen, 
fröhlich umherſchwimmen und Jagd auf andere Thiere machen; 

dann ſetzen ſie ſich feſt, werfen ein Organ um's andere ab, ver- 

lieren ihre Schwimmfüße, ihre Augen, die Sculptur ihres Leibes 

und ſind ſchließlich nichts, als ein Darmſack. Wie wäre ein ſolcher 
Entwicklungsgang begreiflich, wenn wir uns nicht vergegenwärkigen, 

daß das Geſetz der Erblichkeit hier in Kraft tritt, und daß dieſer 
Entwicklungsgang nichts anderes iſt, als die Repetition der Stamm⸗ 
baumgeſchichte, bei welcher wir es mit einem allmäligen Herab⸗ 
ſinken von höherer Stufe der Körperbeſchaffenheit zu niederer zu 

thun haben, denn das iſt gerade ſo gut möglich, als das Um— 
gekehrte. d 

Der ſechste Punkt, und damit ſchließe ich den heutigen Vor⸗ 5 Die 
Differenzen 


trag, iſt der, daß uns die Abſtammungslehre die Thatſache erklärt, zwischen 
daß die untergegangenen Thiere, die, deren verſteinerte Reſte wir . 
in den Erdſchichten finden, nicht mehr unſern heutigen gleichen, Lebeweſen. 
und zwar um ſo weniger, je weiter zurück in der Zeit ſie liegen. 

Wenn eine ſolche allmälige Abänderung ſtattfindet, wie es die 
Abſtammungslehre verlangt, ſo muß natürlich der Vorfahre vom 

heutigen Nachkommen um ſo verſchiedener ſein, je größer die Zahl 


der Generationen iſt, die ſie von einander ſcheidet. 


7) Geogra⸗ 
phiſche Ver⸗ 
breitung. 


II. 


Om letzten Vortrag haben wir zum Schluß noch verglichen, 
welche Punkte die Abſtammungslehre begreiflich, wenn auch nicht 
vollkommen klar macht, während ſie nach der Urzeugungslehre voll— 
kommen unverſtändlich ſind. Wir haben ſechs dieſer Punkte ab⸗ 
gehandelt und kommen zum ſiebenten, der geographiſchen Verbrei⸗ 
tung, d. h. der Verbreitung der Thiere und Pflanzen auf der 
Erdoberfläche. | 

Es iſt eine längſt gekannte Thatſache, daß dieſe Vertheilung 


durchaus nicht erklärt werden kann aus den heute zurecht beftehen- 
den climatiſchen und ſonſtigen Verhältniſſen eines Landes. Ich 


will Ihnen das mit Darwin's eigenen Worten nahe zu legen 
ſuchen: 

e Betrachtung der Verbreitungsweiſe der organiſchen Weſen 
über die Erdoberfläche iſt die erſte wichtige Thatſache, welche uns 
in die Augen fällt, die, daß weder die Aehnlichkeit noch die Un— 
ähnlichkeit der Bewohner verſchiedener Gegenden aus klimatiſchen 


und andern phyſikaliſchen Bedingungen erklärbar iſt. Alle, welche 


dieſen Gegenſtand ſtudirt haben, ſind endlich zu dem nämlichen 
Ergebniß gelangt. Das Beiſpiel Amerikas allein würde ſchon 
genügen, dies zu beweiſen. Denn alle Autoren ſtimmen darin 


überein, daß mit Ausſchluß des nördlichſten um den Pol her ziem⸗ 
lich zuſammenhängenden Theiles, die Trennung der alten und 
der neuen Welt eine der erſten Grundlagen der geographiſchen 
Vertheilung der Organismen bildet. Wenn wir aber den weiten 
amerikaniſchen Continent von den mittleren Theilen der vereinigten 
Staaten an bis zu ſeinem ſüdlichſten Punkte durchwandern, ſo 
begegnen wir den allerverſchiedenartigſten Lebensbedingungen, den 
feuchteſten Strichen und den trockenſten Wüſten, hohen Gebirgen 
und graſigen Ebenen, Wäldern und Marſchen, Seen und Strö- 
men mit faſt jeder Temperatur. Es gibt kaum ein Klima oder 
eine Bedingung in der alten Welt, wozu ſich nicht eine Parallele 
in der neuen fände, ſo ähnlich wenigſtens, als dies zum Fort⸗ 
kommen der nämlichen Arten erforderlich wäre; denn es iſt ein 
äußerſt ſeltener Fall, irgend eine Organismengruppe auf einen 
kleinen Fleck mit etwas eigenthümlichen Lebensbedingungen beſchränkt 
zu finden. So z. B. gibt es in der alten Welt wohl einige 
Stellen, heißer als irgend welche in der neuen; und doch haben 


dieſe keine eigenthümliche Fauna oder Flora. Aber ungeachtet 


dieſes Parallelismus in den Lebensbedingungen der alten und der 
neuen Welt, wie weit ſind ihre lebenden Bewohner verſchieden! 
Wenn wir in der ſüdlichen Halbkugel große Landſtriche in 
Auſtralien, Südafrika und Weſtſüdamerika zwiſchen 250 — 350 
S. B. mit einander vergleichen, ſo werden wir manche in allen 
ihren natürlichen Verhältniſſen einander äußerſt ähnliche Theile 
finden, und doch würde es nicht möglich ſein, drei einander völlig 
unähnlichere Faunen und Floren ausfindig zu machen. Oder 
wenn wir die Naturprodukte Südamerikas im Süden vom 35° Br. 


32 


und im Norden vom 250 Br. mit einander vergleichen, die alfo 
durch einen Zwiſchenraum von zehn Breitegraden von einander 
getrennt ſind und ein ſehr verſchiedenes Klima bewohnen, ſo zeigen 
ſich dieſelben einander unvergleichlich näher verwandt, als die in 
Auſtralien und Afrika in faſt einerlei Klima lebenden. Und ana- 
loge Thatſachen laſſen ſich auch in Bezug auf die Meeresthiere 
nachweiſen.“ 

„Eine zweite wichtige, uns bei einer allgemeinen Ueberſicht 
auffallende Thatſache iſt die, daß Schranken verſchiedener Art 
oder Hinderniſſe freier Wanderung mit den Verſchiedenheiten zwi⸗ 


ſchen Bevölkerungen verſchiedener Gegenden in engem und weſent— 
lichem Zuſammenhange ſtehen. Wir ſehen dies in der großen 
Verſchiedenheit faſt aller Landbewohner der alten und der neuen 
Welt mit Ausnahme der nördlichen Theile, wo ſich beide nahezu 


berühren und wo vordem bei einem nur wenig abweichenden Klima 
die Wanderungen der Bewohner der nördlichen gemäßigten Zone 
in ähnlicher Weiſe möglich geweſen ſein dürften, wie ſie noch jetzt 
von Seiten der arktiſchen Bevölkerung ſtattfinden. Wir erkennen 
dieſelbe Thatſache in der großen Verſchiedenheit zwiſchen den Be— 
wohnern von Auſtralien, Afrika und Südamerika unter denſelben 
Breiten wieder; denn dieſe Gegenden ſind faſt ſo vollſtändig von 
einander geſchieden, als es nur immer möglich iſt. Auch auf jedem 
Feſtlande ſehen wir die nämliche Erſcheinung; denn auf den ent— 
gegengeſetzten Seiten hoher und zuſammenhängender Gebirgsketten, 
großer Wüſten und mitunter ſogar nur großer Ströme finden wir 
verſchiedene Erzeugniſſe. Da jedoch Gebirgsketten, Wüſten u. ſ. w. 
nicht ſo unüberſchreitbar ſind, oder es nicht ſo lange geweſen ſind, 


34 


als die zwiſchen den Feſtländern gelegenen Weltmeere, ſo ſind 
dieſe Verſchiedenheiten dem Grade nach viel kleiner, als die in 
verſchiedenen Continenten.“ 

„Wenden wir uns zu dem Meere, ſo finden wir das nämliche 
Geſetz. Die Meeresfaunen der Oſt- und Weſtküſten von Süd⸗ 


und Central-Amerika find ſehr verſchieden; fie haben kaum ein 


einziges Mollusk, Kruſtenthier oder anderes Thier gemeinſam 
mit Ausnahme einiger Fiſche, wie Günther kürzlich gezeigt hat. 
Und doch ſind dieſe großen Faunen nur durch die ſchmale, aber 
unpaſſirbare Landenge von Panama von einander getrennt. Weſt⸗ 


wärts von den amerikaniſchen Geſtaden erſtreckt ſich ein weiter 
und offener Ocean mit nicht einer Inſel zum Ruheplatz für Aus⸗ 
wanderer; hier haben wir eine Schranke anderer Art, und ſobald 
dieſe überſchritten iſt, treffen wir auf den öſtlichen Inſeln des 
ſtillen Meeres auf eine neue und ganz verſchiedene Fauna. Es 
erſtrecken ſich alſo drei Meeresfaunen nicht weit von einander in 
parallelen Linien weit nach Norden und Süden in ſich entſpre— 
chenden Klimaten. Da ſie aber durch unüberſteigliche Schranken 
von Land oder offenem Meer von einander getrennt ſind, ſo 
bleiben ſie völlig von einander verſchieden. Gehen wir aber von 
den öſtlichen Inſeln im tropiſchen Theile des ſtillen Meeres noch 
| weiter nach Weiten, jo finden wir keine unüberſchreitbaren Schran⸗ 
ken mehr; unzählige Inſeln oder zuſammenhängende Küſten bieten 
ſich als Ruheplätze dar, bis wir nach Umwanderung einer Hemi— 
ſphäre zu den Küſten Afrika's gelangen; und in dieſen weiten 
Flächen finden wir keine wohlscharakterifirten verſchiedenen Mee⸗ 


resfaunen. Obwohl kaum eine Schnecke, eine Krabbe oder ein 
3 


34 


Fiſch jenen drei Faunen an der Oſt- und Weſtküſte Amerikas 
und im öſtlichen Theile des ſtillen Oceans gemeinſam iſt, fo 
reichen doch viele Fiſcharten vom ſtillen bis zum indiſchen Ocean 
und ſind viele Weichthiere den öſtlichen Inſeln der Südſee und 
den öſtlichen Küſten Afrikas unter ſich faſt ganz genau entgegen⸗ 
ſtehenden Meridianen gemein.“ 

„Eine dritte große Thatſache, ſchon zum Theil in den vori⸗ 
gen mitbegriffen, iſt die Verwandtſchaft zwiſchen den Bewohnern 
eines nämlichen Feſtlandes oder Weltmeeres, obwohl die Arten 
verſchiedener Theile und Standorte deſſelben verſchieden ſind. Es 
iſt dies ein Geſetz von der größten Allgemeinheit, und jeder Con⸗ 
tinent bietet unzählige Belege dafür. Demungeachtet fühlt ſich 
der Naturforſcher auf ſeinem Wege von Norden nach Süden un— 
fehlbar betroffen von der Art und Weiſe, wie Gruppen von 
Organismen der Reihe nach einander erſetzen, die in den Arten 
verſchieden, aber offenbar verwandt ſind. Er hört von nahe ver— 
wandten, aber doch verſchiedenen Vögeln ähnliche Geſänge, ſieht 
ihre ähnlich gebauten, aber nicht völlig gleichen Neſter mit ähn⸗ 
lich gefärbten Eiern. Die Ebenen der Magellanſtraße ſind von 
einem Nandu (Rhea Americana) bewohnt, und im Norden der 
Laplataebene wohnt eine andere Art derſelben Gattung, doch kein 
ächter Strauß (Struthio) oder Emu (Dromaius), welche in Afrika 
und beziehungsweiſe in Neuholland unter gleichen Breiten vor⸗ 
kommen. In denſelben Laplataebenen finden wir das Aguti (Da- 
syprocta) und die Viscache (Lagostomus), zwei Nagethiere von 
der Lebensweiſe unſerer Haſen und Kaninchen und mit ihnen in 


gleiche Ordnung gehörig, aber einen rein amerikaniſchen Organi⸗ 


35 


4 


ſationstypus bildend. Steigen wir zu den Hochgebirgen der Cor— 
dilleren hinan, fo treffen wir den Berg-Viscache (Lagidium); 
ſehen wir uns am Waſſer um, ſo finden wir zwei andere ſüd⸗ 
amerikaniſche Typen, den Coypu (Myopotamus) und Capybara 
(Hydrochoerus) ſtatt des Bibers und der Biſamratte. So ließen 
ſich zahlloſe andere Beiſpiele anführen. Wie ſehr auch die Inſeln 
an den amerikaniſchen Küſten in ihrem geologiſchen Bau abweichen 
mögen, ihre Bewohner ſind weſentlich amerikaniſch, wenn auch 
von eigenthümlichen Arten. Wir erkennen in dieſen Thatſachen 
ein tiefliegendes organiſches Band, über Zeit und Raum dieſelben 


Gebiete von Land und Meer, unabhängig von ihrer natürlichen 
Beſchaffenheit, beherrſchend. Der Naturforſcher müßte wenig For⸗ 
ſchungstrieb beſitzen, der ſich nicht verſucht fühlte, näher nach 
dieſem Bande zu forſchen.“ 


Dieſes Band liefert die Abſtammungslehre, indem ſie uns die Abſtam⸗ 


mungslehre 


auf den einzigen Weg, den geſchichtlichen, verweist. Ich will der „art den 


geehrten Verſammlung an einem beſtimmten Beiſpiel zeigen, wie . 
5 zwiſchen den 


man auf Grund der Abſtammungslehre derartige Verhältniſſe Bewohnern 


der alten 


. 


heutzutage beurtheilt. a 
Es iſt, wie Sie bereits aus dem Obigen geſehen haben, welt. 
eine der durchgreifendſten Eigenthümlichkeiten in der Vertheilung 
von Thier⸗ und Pflanzenwelt, daß in der alten Welt durchgängig 
ſich andere Arten vorfinden, als in der neuen, mit Ausnahme 
weniger Arten, die um den Nordpol herum in beiden Welten 
gleichzeitig getroffen werden. Wenn wir uns nach der Geſchichte 
der Bewohner dieſer beiden Sphären umſehen, ſo finden wir zu— 


nächſt in der ſogenannten Miocenzeit, einer Zeit, die ſehr lange 
3 * 


nr 
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188 MR 4 * . * 1 
— 1 
5 


36 


hinter uns liegt, in Europa Verhältniſſe, welche auf ein tropi- 
ſches Clima deuten. Es wuchſen da Palmen und Farrenbäume, 
es lebten in den Wäldern Affen, Krokodile, Nashörner, Tapire 
u. ſ. f., und was für unſere Frage zunächſt intereſſant iſt: es hatten 
dieſe Thiere ein unverkennbar amerikaniſches Gepräge und auch 
die Zuſammenſetzung der europäiſchen Thierwelt war ſo, wie fie 
heutzutage in Amerika iſt. Wir haben nun geologiſche Anhalts⸗ 
punkte, daß zu jener Zeit wirklich Europa und Amerika zuſammen⸗ 
hingen, daß Europa vielleicht ebenſo ein Anhängſel von Amerika 
war, wie es heutzutage eines von Aſien iſt. 

Nach der Miocenzeit bricht über die nördliche Halbkugel eine 
Zeit herein, welche die Geologen die Eiszeit nennen. Sie iſt da⸗ 
durch charakteriſirt, daß die Winter immer länger und ſtrenger 
wurden, daß ſich unſere Hochgebirge übergletſcherten, daß die 
ſkandinaviſche Halbinſel uns Eisberge zuſchickte, die an den damals 
weiter ſüdlich gelegenen Küſten der Oſtſee ſtrandeten und über 
den Süden Europa's bittere Kälte verbreiteten. In dieſer Zeit 
zerriß der Zuſammenhang zwiſchen Amerika und der alten Welt, 
ſo daß von jetzt an eine Miſchung der Fauna und Flora nicht 
mehr möglich war. Die Bewohnerſchaft Europa's erlitt gewaltige 
Veränderungen. Ein Theil ſtarb aus, andere zogen ſüdwärts 
nach Afrika, das damals noch mit Südeuropa zuſammenhing; 
wieder andere nahmen winterſchlafende Gewohnheiten an, um die 


Strenge der Jahreszeit zu überdauern; andere, wie die Vögel, 


erwarben ſich einen Wandertrieb, der bewirkt, daß ſie jährlich 
während der kalten Jahreszeit nach Süden zu wandern ſich ver— 
anlaßt fühlen; andere fanden ſich zurecht in die neuen Verhältniſſez 


die blieben unverändert. Wir haben ſomit zu jener Zeit eine 


ganz andere Pflanzen- und Thierwelt in Europa, als fie zuvor 


war. Es kommt noch hinzu, daß mit Einbruch der kalten Zeit 
von den Polarländern herab Thiere einwanderten, die wir vorher 
nie ſahen: Rennthiere, Hamſter, Vielfraße, das Mammuth und 
das wollhaarige Rhinoceros, kurz eine Reihe nordiſcher Thiere 
und nicht minder nordiſcher Pflanzen. 

Dieſer Sachverhalt machte ſpäter einem andern Platz. Es 
fand ein Rückgang der Kälte ſtatt, und zwar, wie man jetzt ziem⸗ 
lich genau weiß, in zwei Schwankungen. Dieſer Rückgang brachte 
Amerika und Europa nicht mehr in Verbindung mit einander. 
In Amerika konnte die Bevölkerung, die durch die Kälte ſüd— 
wärts geſchoben wurde, ohne Beſchwerde wieder Beſitz ergreifen 
von ihrem urſprünglichen Gebiet, ohne daß ſie weſentliche Ver⸗ 
änderungen erlitten. In Europa war dieß nicht der Fall. Nach 
Süden war der frühere Zuſammenhang mit Afrika abgeriſ— 
ſen; die nach Afrika hinuntergetriebenen Thiere, z. B. Hyänen, 
Nilpferde, Nashörner ꝛc., konnten nicht mehr zurück nach Europa, 
wohl aber fand eine neue Einwanderung ſtatt, als Europa in 
Zuſammenhang trat mit Aſien. Es erfolgte Schlag auf Schlag 
eine Einwanderung aſiatiſcher Thiere, die bis zum heutigen Tag 
noch fortdauert. Von all dem blieb Amerika unberührt, es war 
und blieb von jedem andern Welttheil von der Miocenzeit an ges 
trennt und jo haust dort heute noch fo ziemlich die gleiche Thier— 
und Pflanzenwelt, wie damals. Wenn Sie dieſe Verhältniſſe 
überblicken, ſo werden Sie begreiflich finden, daß in Europa heut⸗ 
zutage andere Thiere leben, als in Amerika, daß die Bevölkerung 


Acclima⸗ 
tiſation. 


38 


eines Landes viel weniger abhängig iſt von den climatiſchen Ver⸗ 
hältniſſen, als von den Völkerwanderungen, die über daſſelbe ſich 
ergießen. 

Die Wanderungen der Thiere ſind ſehr mannigfaltig, jedoch 
übergehe ich das jetzt, da ich ſpäter, wenn ich von den Leiſtungen 
Darwins zu reden haben werde, noch einmal darauf zurückkomme. 
Allein eins muß jetzt ſchon beſprochen werden. Mit dieſer Wanderung 
iſt verknüpft der Prozeß, den wir Acclimatiſation nennen. Wenn 
Thiere oder Pflanzen Coloniſten ausſenden in fremde Länder, ſo 
treten allmälig bei denſelben Veränderungen ein, welche ſie immer 
mehr verſchieden machen von den in der Heimat zurückgebliebenen 
Stammweſen. Sie ſehen das bei uns Menſchen ganz deutlich: trotz— 
dem, daß erſt ſehr kurze Zeit verfloſſen iſt, ſeit Europäer nach Ame⸗ 
rika gekommen find, unterſcheiden Sie die Yankee's von den Eng- 


ländern, die Deutſchamerikaner von den Deutſchen im Mutterland. 


Wie dieſe Unterſchiede zu Stande kommen, war denen, welche 
vor Darwin der Abſtammungslehre anhingen, noch nicht klar. 
Nur das war ihnen klar, daß wenn ſich dieſe durch die Akklima— 


tiſation bewirkten Unterſchiede von Generation zu Generation ſtei⸗ 


gern, eine neue Art entſtehen muß, während im Mutterland die 
alte fortlebt. Weiter war ihnen Folgendes klar: Wenn die ein— 
mal erfolgte Trennung durch die Erblichkeitsgeſetze feſtgehalten 
wird und ſpäter von der Colonie eine gelungene Rückwanderung 
ſtattfindet mit neuer Abänderung durch die Akklimatiſation, ſo 
haben wir ſtatt einer anfänglichen Art deren drei, wovon zwei 
auf demſelben Boden leben. Es erklärt alſo die Abſtammungs⸗ 
lehre uns nicht nur die Art der Vertheilung der Thiere auf der 


39 


Erdoberfläche, ſondern erklärt uns auch, wie es durch die unauf- 


hörlichen Wanderungen zu einer Vermehrung der Thier- und 


Pflanzenarten kommen mußte. 

Dieſe Verhältniſſe find eine außerordentlich wichtige Errungen- 
ſchaft der Abſtammungslehre ſchon vor Darwin geweſen. Darwin 
hat nur die ſchwierigſten Probleme, welche wir vor ihm nicht 
löſen konnten, einer Löſung nahe gebracht durch Verſuche, die ich 
Ihnen ſpäter mittheilen will. Es iſt neuerdings von einem Ge⸗ 
lehrten, Moritz Wagner in München, das ſogenannte Migrations⸗ 
oder Wanderungsgeſetz proklamirt worden, das ausſagt: nur durch | 
Wanderung oder Zerſchneidung des Verbreitungsbezirkes könne aus 
Einer Art ſich eine zweite neue entwickeln, nicht aber ſo lange ſie 
auf dem gleichen Boden weilen. Für dieſes Geſetz gilt ein öfters 
auf naturwiſſenſchaftliche Aufſtellungen anwendbarer Ausſpruch: 
Was daran richtig iſt, iſt nicht neu, und was es Neues enthält, 
iſt nicht richtig. Daß die Wanderung oder die Aufrichtung von 
Wanderungshinderniſſen von größtem Einfluß auf die Spaltung 
einer Art in mehrere iſt, hat nicht blos Darwin in ſchärfſter 
Weiſe dargethan, ſondern war auch ſchon den Anhängern der 
Abſtammungslehre vor dem Erſcheinen von Darwins Buch voll— 
kommen klar. So habe ich dieſen Gegenſtand in meinen „Zoo⸗ 
logiſchen Briefen“ einer Auseinanderſetzung der Abſtammungslehre, 
die ich ſchon im Jahre 1858 ſchrieb, auf's ſorgfältigſte behandelt. 
Wenn aber Moritz Wagner die Wanderung für eine unerläßliche 
Bedingung der Artenbildung hält, ſo muß dies zurückgewie⸗ 
ſen werden. 

Nachdem ich Ihnen jo auseinandergeſetzt, daß die Abſtam— 


or. wage Eat re 


— TEE 


Warum 

ſiegte die 

Abſtam⸗ 
mungslehre 
nicht früher? 


40 


mungslehre eine Reihe der wichtigſten und merkwürdigſten Ver⸗ 
hältniſſe der Lebewelt begreiflich macht, die die Urzeugungslehre 
ganz im Unklaren ließ, werden Sie mich vielleicht verwundert 
fragen: warum hat man nicht ſchon vor Darwin ſich dieſer Lehre 


allgemeiner zugewendet, um fo mehr, als fie ſchon zu Beginn dieſes 


Jahrhunderts von geiſtreichen Naturforſchern auf's deutlichſte aus⸗ 
geſprochen worden iſt? Das hat den gleichen Grund, warum Huß 
nicht der Begründer der Reformation wurde, ſondern erſt Luther. 
Lamark, der erſte bedeutende Prieſter dieſer Lehre vor Darwin, 
hatte unvorbereitete Geiſter getroffen, als er mit feiner Abſtammungs⸗ 
lehre auftrat. Zu jener Zeit gab es keine vergleichende Entwick— 
lungsgeſchichte, man hatte keine Ahnung von der Uebereinſtimmung 
der Embryonen und der merkwürdigen Thatſache, daß jedes Weſen 
in ſeiner perſönlichen Entwicklung ſeinen Stammbaum repetirt. 
Weiter war zu jener Zeit die Kenntniß von den untergegangenen 
Thieren und Pflanzen eine äußerſt ſpärliche, und man wagte 
kaum erſt zu vergleichen zwiſchen untergegangenen und heute 
lebenden. Dann war man durchaus noch nicht im Beſitz jener 
merkwürdigen Reſultate, welche uns die Vergrößerungsgläſer geben 
bezüglich der Zuſammenſetzung von Thieren und Pflanzen; ferner 
gab es zu jener Zeit wohl Landwirthe und Kunſtgärtner, aber 
es gab keine wiſſenſchaftlichen Thier- und Pflanzenzüchter. Damit 
entbehrte die Abſtammungslehre ihrer weſentlichſten Beweiſe. Das 


war der eine Punkt. 


Der zweite war der, daß gleichzeitig Cuvier mit einer neuen 


Forſchungsmethode, der vergleichenden Anatomie, aufgetreten war, 
und jetzt alle Naturforſcher die Hände voll zu thun hatten, um 


41 


das ſich vor ihnen eröffnende unüberſehbare Gebiet zu bewältigen. 
Die Naturforſcher hatten ſomit keine Zeit, ſich mit der Abſtam⸗ 
mungslehre zu befaſſen. 

Ein Appell an die Laien, ein Appell an den geſunden Men⸗ 


ſchenverſtand war nicht möglich, brausten ja damals die Heere 


des franzöſiſchen Kaiſers durch ganz Europa, und da hatten die 
Leute keine Zeit, um über das Herkommen von Thier⸗ und Pflan⸗ 
zenwelt zu disputiren. Der Streit zwiſchen Urzeugungs- und 
Abſtammungslehre blieb ſomit auf die Gelehrtenkreiſe beſchränkt, 
und hier war Cuvier's Einfluß allmächtig. Er hatte ſich zum 
Pabſt aufgeſchwungen, und da er ein Gegner der Abſtammungs⸗ 
lehre war, ſo konnte Lamark mit ſeinen Anhängern nicht gegen 
ihn aufkommen. Cuvier war kein Naturforſcher, der das Denken, 
die philoſophiſche Methode bei Seite geworfen hätte, das lehrt 
ſein Werk über die Causes finales, allein er war der Anſicht, 
daß es noch nicht Zeit dazu ſei, und da hatte Cuvier Recht. 
Der letzte Punkt iſt der, daß Lamark die Art und Weiſe 
der Umänderung nicht erklären konnte. Er hatte nur Eines richtig 
erkannt, daß geſteigerter Gebrauch ein Organ vergrößert, vermin— 
derter Gebrauch es im Wachsthum zurückſetzt; allein auf welche 
Urſachen das zurückzuführen iſt, und wo der Trieb zum Gebrauch 
liegt, war ihm nicht klar. So unterlag zu Anfang dieſes Jahr⸗ 
hunderts die Abſtammungslehre vollkommen, aber nur in der 
Oeffentlichkeit. Im Geheimen rangen die Geiſter fort an dieſem 
Problem und ſo oft ſich einer mit dieſen Fragen ernſtlich beſchäf⸗ 
tigte, ſo oft verfiel er auf die einzig mögliche Löſung der Räthſel, 
auf die Abſtammungslehre. Wir können dieſe Leute, die Ante⸗ 


42 


Antesormie darwinianer, die Vorgänger Darwins nennen, die ihm den 


nianer. 


Boden bereiteten. Da ich ſelbſt zu ihnen zu gehören mir 
ſchmeichle, ſo kann ich Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung die 
damalige Situation vor Darwin ganz klar machen. Schon im 


Jahre 1857 hatte ich in einem geſelligen Cirkel von Gelehrten 


Wiens aus allen Fächern des Wiſſens die Abſtammungslehre ver⸗ 
theidigt, und zwar, ich darf wohl ſagen, mit ſo viel Glück ver— 
theidigt, daß Mathematiker, Phyſiker, Aſtronomen, auch ein Theil 
der Geologen und Botaniker auf meine Seite traten und nur Ein 
ernſtlicher, übrigens jetzt auch bekehrter Gegner übrig blieb von 
mehr als einem Dutzend. Ich ſchrieb meine damaligen Medi⸗ 
tationen auf, aber wagte nicht, ſie zu publiciren. Sollte 
dieſe ſchon einmal im Kampf unterlegene Lehre wieder auf den 
Kampfplatz treten, ſo mußte es durch einen Mann geſchehen, der 
ſchon feine Sporen in der Wiſſenſchaft in jeder Beziehung ſich 
verdient hatte, den man nicht todtſchweigen durfte, und ich war 
damals ein beſcheidener Anfänger. Später habe ich dieſe Aus- 
einanderſetzungen im Druck erſcheinen laſſen als Beitrag der Ge— 
ſchichte der Darwin'ſchen Theorie *) und weil fie manche Punkte 
in's Klare ſetzten, die Darwin ferner lagen, aber dem Anfänger 
in dieſer Lehre von großer Wichtigkeit ſein müſſen. 

Derlei Leute lebten in allen Ländern, und in der Einleitung 


zu der neueſten Auflage von Darwin finden Sie eine ganze Reihe 
engliſcher Naturforſcher angeführt, welche vor Darwin auf dem 
Boden der Abſtammungslehre ſtanden; und jetzt werden Sie es 


*) Jäger, Zoologiſche Briefe. Wien. 1864. bei Braumüller. 


43 


begreifen, warum mit dem Auftreten Darwin’ ſofort Haupt um 
Haupt ſich erhob und ſich an die Seite ihres Meiſters ftellte. 
Mit Einem Schlag war die Schule fertig *). 

Was hat nun Darwin geleiſtet auf dem Gebiet der Abſtam⸗ 


mungslehre? Den Vorgängern war es klar, daß eine Umwand— 
lung der Lebeweſen ſtattfindet, es war ihnen klar, daß die indi- 
viduelle Variation nicht eine Oscillation um einen unverrückbaren 


Punkt iſt, von dem ſie nicht wegkommt, ſondern daß dieſer Punkt 


*) Es dürfte nicht unintereſſant ſein, hier noch auf einen für Darwin's 
Sieg nicht unwichtigen Umſtand hinzuweiſen, auf den Einfluß, den die Her- 
anziehung des großen Publikums zu den wiſſenſchaftlichen Intereſſen durch 
populäre Vorträge und Schriften ausübt. In meinen ſchon erwähnten zwei 
öffentlichen Vorträgen über die Darwin'ſche Lehre in Wien hatte ich ſie 
weſentlich dargeſtellt als eine Förderung des geſunden Menſchenverſtands, 
und der große Eindruck, den fie auf das Publikum machte, verhinderte man- 
chen, der ſonſt auf dieſen Gebieten das Wort führte, voreilig gegen ſie auf⸗ 
zutreten. So ſagte mir gerade der Wiener Naturforſcher, den ich ſchon 
früher als den einzigen übrig gebliebenen Gegner bezeichnete, unmittelbar 
nach dem Schluß des Vortrags: er habe in feinem für den gleichen Cyklus 
beſtimmten Vortrage gegen die Darwin'ſche Lehre ſprechen wollen, allein 
nach dem, was geſchehen, werde er nicht nur das unterlaſſen, ſondern ſogar 
für ſie auftreten. Der Erfolg in der öffentlichen Meinung und die von 
mir angebotene öffentliche Disputation zwang die etwaigen Gegner, die Lehre 
gründlich zu ſtudiren, und als ſie das thaten, waren ſie auch zu ihr bekehrt. 
Die Gelehrten ſollten deshalb nicht ſo vornehm auf die herabſehen, welche 
durch Schrift und Wort das Intereſſe an wiſſenſchaftlicher Forſchung in 
weitere Kreiſe zu tragen verſuchen, eine ſolche Antheilnahme kommt der 


Wiſſenſchaſt ſehr zu ſtatten. 


Darwins 
Umwand⸗ 
lungslehre. 


44 


fortwährend verſchoben wird; aber ſie wußten nicht, wo— 
durch, und das hat Darwin erklärt. Er wandte ſich an die ein⸗ 
zige Quelle der Belehrung, an die Praxis; er ſah, daß in der 
Wandelbar⸗Hand des Kunſtgärtners die Pflanze biegſam wird, wie Wachs; 
3 ſah, daß es dem Thierzüchter gelingt, jede wünſchenswerthe 
e Eigenſchaft ſeiner Zuchtthiere fortwährend zu ſteigern, wenn auch 
nur ſchrittweiſe von Generation zu Generation, weil eben die 
Erblichkeitsgeſetze einer raſcheren Umänderung hinderlich in den 
Weg treten. Er hat ſich zunächſt mit dem Studium der Reſul⸗ 
tate von Ihier- und Pflanzenzucht befaßt und ſelbſt die groß⸗ 
artigſten maſſenhafteſten Verſuche in dieſer Richtung angeſtellt, um 
ſich ſelbſt zu überzeugen, weil er als gewiſſenhafter Mann erſt 
dann Vertrauen faſſen konnte, wenn eigene Beobachtungen zu 
dem von Andern Mitgetheilen ſtimmten. Er hat mit dieſen Un⸗ 
terſuchungen nahezu zwei Bände eines Werks angefüllt, und ich 
werde mir erlauben, nur über zwei Gegenſtände, einen aus dem 
Thierreich und einen aus dem Pflanzenreich, in zuſammenfaſſen⸗ 
der Weiſe Ihnen etwas mitzutheilen, damit Sie ſehen, was Dar- 
win fand, in welcher Weile er gearbeitet hat. Der erfte dieſer 
Gegenſtände iſt die Geſchichte der Haustauben. 
Darwin Nachdem er alle vorhandenen Racen — er ließ ſich ſelbſt 


Uber die 1 RER, ; : 98 
Tauben. die indiſchen, perſiſchen und ägyptiſchen kommen — nicht blos 


nach ihren äußern Eigenſchaften, ſondern nach allen ihren inneren 


Organen auf's genaueſte unterſucht und verglichen hatte, faßt er 
die Differenzpunkte, die er gefunden, in Folgendem zuſammen. 
Raſſen⸗ „Der Schnabel differirt ebenſo wie die Geſichtsknochen merk⸗ 


unterſchiede N 5 5 Be 
erſelben. würdig in der Länge, Breite, Form und Krümmung. Der Schä⸗ 


45 


del differirt in der Form und bedeutend in dem durch Verbindung 
der Zwiſchenkieferbeine, Naſenlöcher und Oberkieferjochbeine gebil- 
deten Winkel. Die Krümmung des Unterkiefers und der Um— 
ſchlag ſeines oberen Randes differirt ebenſo wie die Mundſpalte 
in einer ſehr merkwürdigen Art. Die Zunge variirt ſehr in ihrer 
Länge ſowohl unabhängig von der Schnabellänge, als in Corre⸗ 
lation mit derſelben. Die Entwicklung der nackten carunkulirten 
Haut über den Naſenlöchern und um die Augen variirt in einem 
äußerſten Grade. Die Augenlider, die äußeren Naſenöffnungen 
variiren in der Länge und ſtehen in einer gewiſſen Ausdehnung 
in Correlation mit dem Entwickelungsgrade der Hautlappen. Die 
Größe und Form des Oeſophagus und Kropfes und ihre Fähig— 
keit, aufgeblaſen zu werden, differiren immens. Die Länge des 


Halſes variirt. Mit der variirenden Form des Körpers variirt 


auch die Breite und Zahl der Rippen, das Vorhandenſein von 
Fortſätzen, die Zahl der Kreuzbeinwirbel und die Länge des Ster⸗ 
num. Die Zahl und Größe der Schwanzwirbel variiren offenbar 
in Correlation mit der Größenzunahme des Schwanzes. Die 
Größe und Form der Perforationen im Bruſtbein und die Größe 
und Divergenz der Aeſte der Furcula differiren, die Oeldrüſe 
varürt in ihrer Entwickelung und iſt zuweilen völlig abortirt. 
Die Richtung und Länge gewiſſer Federn iſt bedeutend modificirt 
worden, wie bei der Haube des Jacobiners und der Krauſe der 
Möventaube. Die Shwung- und Schwanzfedern variiren meiſt 
zuſammen der Länge nach, zuweilen aber auch unabhängig von 
einander und von der Größe des Körpers. Die Zahl und Stel⸗ 
lung der Schwanzfedern variirt in einem unvergleichlichen Grade. 


46 


Die Schwungfedern erſter und zweiter Reihe variiren gelegentlich 
der Zahl nach, offenbar in Correlation mit der Länge des Flü⸗ 
gels, die Länge des Beines und die Größe der Füße, und in 
Verbindung mit der letzten die Zahl der Schildchen, alles variirt. 
Eine Bindehaut vereinigt zuweilen die Baſen der beiden innern 


Zehen und umfaßt ausnahmslos die beiden äußeren Zehen, wenn 
die Füße befiedert ſind.“ 

„Die Größe des Körpers differirt bedeutend. Man hat ge⸗ 
funden, daß eine Runt-Taube mehr als fünfmal fo viel wog, 
als ein kurzſtirniger Burzler. Die Eier differiren in Größe und 
Form. Nach Parmentier brauchen einige Raſſen viel Stroh 
zum Bau ihres Neſtes, andere wenig; ich kann aber keine neuere 
Beſtätigung dieſer Angaben finden. Die Länge der Zeit, die zum 
Ausbrüten der Eier nöthig iſt, iſt bei allen Zuchten gleich; die 
Zeit, in welcher das charakteriſtiſche Gefieder einiger Raſſen er- 
langt wird und in welcher gewiſſe Farbenveränderungen eintreten, 
differirt. Der Grad, in welchem die jungen Vögel nach dem 
Ausſchlüpfen mit Dunen bekleidet ſind, iſt verſchieden und ſteht 
in eigenthümlicher Weiſe mit der ſpätern Färbung des Gefieders 
in Correlation. Die Art zu fliegen und gewiſſe ererbte Bewe— 
gungen, wie das Zuſammenſchlagen der Flügel, das Burzeln ent- 
weder in der Luft oder auf dem Boden, und die Art und Weiſe, 
dem Weibchen die Cour zu machen, bieten die eigenthümlichſten 
Verſchiedenheiten dar. Der Diſpoſition nach weichen die verſchie⸗ 
denen Raſſen von einander ab; einige Raſſen ſind ſehr ſchweig⸗ 
ſam, andere girren in einer eigenthümlichen Weiſe.“ 


Nun erörtert er in ausführlicher Weiſe die Abſtammung 


47 


der Haustauben und weist überzeugend nach, daß fie nur von Abstammung 


einer einzigen wilden Art, der Felſentaube, abſtammen, daß die ur 


aufgezählten Verſchiedenheiten unter den Raſſen auf gar keine 
andere Weiſe erklärt werden können, als durch die Eingriffe, 
die der Menſch in den Entwicklungsgang macht. Dann wendet 
er ſich an die Geſchichte. Er trägt alles zuſammen, was die Lite- 
ratur über die Geſchichte der Hauptraſſen enthält, und zwar nicht 
blos die europäiſche, ſondern auch die außereuropäiſche, namentlich 
die indischen, perſiſchen Quellen ꝛc. Ich erlaube mir, von dieſem 
hiſtoriſchen Theil nur die paar Schlußſätze vorzuleſen, die folgen⸗ 


dermaßen lauten: 


„Aus dieſen hiſtoriſchen Details ſehen wir, daß nahezu alle Geschichte 
der hauptſächlichſten Raſſen vor dem Jahre 1600 exiſtirten; einigen 
die nur der Färbung wegen merkwürdig waren, ſcheinen mit un⸗ 
fern jetzigen Raſſen identiſch geweſen zu fein, einige waren nahe 
bei dieſelben, einige beträchtlich verſchieden, und andere ſind ſeit— 
dem ausgeſtorben. Mehrere Raſſen, wie die Finnikins und Dreher, 
die ſchwalbenſchwänzigen Tauben von Bechſtein und der Car⸗ 
meliter ſcheinen innerhalb derſelben Periode entſtanden und wieder 
verſchwunden zu ſein. Jeder, der jetzt ein gut bevölkertes eng⸗ 
liſches Vogelhaus beſucht, wird ſicher als die diſtincteſten Arten 
die folgenden herausheben: die maſſive Runt⸗Taube, die Boten⸗ 
taube mit ihrem wunderbar verlängerten Schnabel und den großen 
Fleiſchlappen, die Barb⸗Taube mit ihrem kurzen breiten Schnabel 
und den Carunkeln um die Augen, den kurzſtirnigen Burzler mit 
ſeinem kleinen coniſchen Schnabel, den Kröpfer mit ſeinem großen 
Kropf, langen Beinen und Körper, die Pfauentaube mit ihrem 


48 


aufgerichteten, weit ausgebreiteten, wohlbefiederten Schwanz, die 
Möventaube mit ihrer Krauſe und dem kurzen ſtumpfen Schna⸗ 
bel, und den Jacobiner mit ſeiner Haube. Wenn nun dieſelbe 
Perſon die Tauben hätte ſehen können, welche vor 1600 Akber— 
Khan in Indien und Aldrovandi in Europa hielten, ſo würde 
er den Jacobiner mit einer weniger vollſtändigen Haube, die 
Möventaube offenbar ohne ihre Krauſe, den Kröpfer mit kurzen 
Beinen und in jeder Weiſe weniger merkwürdig geſehen haben 
(d. h. wenn Aldrovandi's Kröpfer der alten deutſchen Art 
ähnlich war); die Pfauentaube würde im äußeren Anſehen weit 
weniger eigenthümlich geweſen ſein und viel weniger Federn in 
ihrem Schwanze gehabt haben; er würde ausgezeichnet fliegende 
Burzler geſehen, aber vergebens nach den wunderbaren kurz— 
ſtirnigen Raſſen geſucht haben. Er würde Vögel geſehen haben, 
die den Barben verwandt waren, es iſt aber äußerſt zweifel⸗ 
haft, ob er unſere wirkliche Barb-Taube gefunden haben würde, 
und endlich würde er Botentauben gefunden haben, welche die 
Schnäbel und die Hautlappen unvergleichlich weniger entwickelt 
hatten, als unſere engliſche Botentaube. Er würde wohl die 
meiſten dieſer Raſſen in dieſelben Gruppen wie jetzt eingeordnet 
haben, die Verſchiedenheiten zwiſchen den Gruppen waren aber 
damals viel weniger ſcharf ausgeſprochen, als jetzt; kurz, die ver— 
ſchiedenen Raſſen waren zu jener Zeit noch nicht in einem fo 
bedeutenden Maße von ihrer urſprünglichen elterlichen Form, der 
wilden Felstaube, abgewichen.“ 

In ähnlicher Weiſe unterſuchte Darwin faſt alle unſere 


Hausthierraſſen, namentlich ausführlich alle diejenigen, welche 


49 


von den Thierzüchtern weniger berüdfichtigt werden. Dann. 
wandte er ſich in gleicher Weiſe zu den Culturpflanzen. Ich 
erlaube mir nur eines daraus hervorzuheben, das, was er über 
Stachelbeere ſagt. 

„Ich glaube, es hat bis jetzt Niemand bezweifelt, daß alle culti- Darwin 


virten Sorten von der wilden Pflanze gleichen Namens abſtammen, 1 


welche in Central⸗ und Nordeuropa gemein iſt. Es iſt daher wohl er⸗ 
wünſcht, kurz alle die Punkte anzuführen, welche, wenn ſie auch nicht 
von großer Bedeutung ſind, variirt haben. Wenn zugegeben wird, 


daß dieſe Differenzen Folge der Cultur ſind, ſo werden die Autoren 
vielleicht nicht ſo leicht mit der Annahme bereit ſein, daß eine große 
Anzahl unbekannter wilder Stammformen für unſere übrigen 
cultivirten Pflanzen exiſtiren. Die Stachelbeere wird von den 
Schriftſtellern der claſſiſchen Periode nicht erwähnt. Turner er⸗ 
wähnt ſie 1573 und Parkinſon führt 1629 ſpeciell acht Varie⸗ 
täten an. Der Catalog der Horticulturgeſellſchaft von 1842 gibt 
149 Varietäten, und die Liſte der Lancaſhire-Gärtner ſoll über 
300 Namen enthalten. In dem „Gooſeberry Grower's Regiſter“ 
von 1862 fand ich, daß 243 diſtincte Varietäten zu verſchiedenen 
Zeiten Preiſe gewonnen haben, jo daß eine ungeheure Zahl exi⸗ 
ſtirt haben muß. Ohne Zweifel iſt die Verſchiedenheit zwiſchen 
vielen dieſer Varietäten ſehr klein. Als Mr. Thompſon die 
Früchte für die Horticulturgeſellſchaft claſſificirte, fand er indeß 
in der Nomenclatur der Stachelbeere weniger Confuſion, als bei 


2 Fe ee 


allen übrigen Früchten, und er ſchreibt dies dem Umſtande zu, 
„daß die Preiszüchter ein großes Intereſſe daran haben, Sorten 


mit falſchen Namen zu entdecken“; und dies zeigt wieder, daß 
a 4 


50 


alle die Sorten, ſo zahlreich fie auch find, mit Sicherheit mwieder- 
erkannt werden können.“ 

„Die Sträuche differiren in der Art des Wachsthums; ſie 
ſind entweder aufrecht, oder ausbreitend, oder hängend. Die Zeit 
des Beblätterns iſt ſowohl abſolut, als relativ zu einander ver— 
ſchieden. So bringen die „Whiteſmith“ zeitige Blüthen, welche 
in Folge davon, daß ſie nicht vom Laube beſchützt werden, wie 
man glaubt, beſtändig keine Früchte produciren. Die Blätter 
variiren in Größe, Färbung und Tiefe der Lappen; fie find auf 
der Oberfläche glatt, flaumig oder haarig; die Zweige ſind mehr 
oder weniger wollig oder dornig; „der Hedgehog (Igel) hat wahr— 
ſcheinlich ſeinen Namen von der eigenthümlichen ſtachligen Be— 
ſchaffenheit ſeiner Schößlinge und Früchte erhalten“. Ich will 
bemerken, daß die Zweige der wilden Stachelbeere glatt ſind 
mit Ausnahme der Dornen an der Baſis der Knoſpen. Die 
Dornen ſelbſt ſind entweder ſehr klein, wenig und einzeln, oder 
ſehr groß und dreifach; ſie ſind zuweilen zurückgebogen und an 
der Baſis ſehr erweitert. In den verſchiedenen Varietäten variirt 
die Frucht außerordentlich, ſowohl in Fülle, in der Zeit der Reife, 
in dem Hängen bis zum Schrumpfen und bedeutend in der Größe, 
— „einige Sorten haben Früchte, die in einer' ſehr frühen Wachs⸗ 
thumsperiode groß werden, während andere klein bleiben, bis ſie 
faſt reif find“. Die Frucht variirt auch ſehr in der Färbung, 
fie iſt roth, gelb, grün und weiß; — das Fleiſch einer dunkel— 
rothen Stachelbeere iſt gelblich gefärbt; — ebenſo im Geſchmack; 
ferner ob ſie glatt oder wollig ſind, indeſſen ſind nur wenige der 


rothen Stachelbeeren wollig, während viele der ſogenannten weißen 


51 


es find. Ferner variiren fie in dem Tragen von Stacheln, und 


die eine Sorte iſt ſo ſtachelig, daß ſie „Henderſon's Porcupine“ 


(Stachelſchwein) genannt wird. Zwei Sorten erhalten, wenn ſie 
reif ſind, einen pulverigen Reif auf ihrer Frucht. Die Frucht 
variirt in der Dicke und dem Geäder ihrer Schale und endlich in 
der Form, indem ſie bald ſphäriſch, bald oblong oder oval iſt.“ 
„Ich cultivirte vierundfünfzig Varietäten, und in Anbetracht 
des Umſtandes, wie bedeutend die Frucht variirt, war es merk⸗ 
würdig, wie ſehr die Blüthen in allen dieſen Sorten einander 
ähnlich waren. Nur bei wenigen entdeckte ich eine Spur von 


Verſchiedenheit in der Größe oder Färbung der Corolle. Der 


Kelch differirt in etwas beträchtlicherem Grade, denn bei einigen 
Sorten war er viel röther, als bei andern, und bei einer glatten 
weißen Stachelbeere war er gewöhnlich roth. Der Kelch differirte 
auch darin, daß der Baſaltheil glatt, oder wollig, oder mit drü- 
ſigen Haaren bedeckt war. Es verdient Beachtung, da es dem 
widerſpricht, was ſich nach dem Geſetz der Correlation hätte er= 
warten laſſen, daß eine glatte rothe Stachelbeere einen merkwür⸗ 
digen haarigen Kelch hatte. Die Blüthen des „Sportsman“ ſind 
mit ſehr großen gefärbten Bracteen verſehen, und dies iſt die 
merkwürdigſte Structurabweichung, welche ich beobachtet habe. 


Dieſelben Blüthen variirten auch bedeutend in der Zahl der Kro⸗ 


nenblätter und gelegentlich in der Zahl der Staubfäden und Pi- 
ſtille, ſo daß ſie der Structur nach halb monſtrös waren, und 
doch producirten ſie reichlich Früchte. Mr. Thompſon bemerkt, 
daß bei der „Paſtime“-Stachelbeere oft Extra-Bracteen an den 


Seiten der Frucht angebracht waren.“ 
4 * 


e —— — Een 


— 


52 


„Der intereſſanteſte Punkt in der Geſchichte der Stachelbeeren 
iſt die ſtetige Zunahme der Größe der Frucht. Mancheſter iſt 
die Metropole der Züchter, und Preiſe von fünf Schilling bis fünf 
oder zehn Pfund werden jährlich für die ſchwerſte Frucht gegeben. 
Alljqährlich wird „The Gooſeberry Grower's Regiſter“ publicirt. 
Das früheſte bekannte Exemplar trägt das Datum 1786, es iſt 
aber ſicher, daß Verſammlungen zur Ertheilung von Preiſen ſchon 
einige Jahre vorher gehalten wurden. Das „Regiſter“ für 1845 
enthält einen Bericht von 171 Stachelbeerausſtellungen, welche 
während dieſes Jahres an verſchiedenen Orten gehalten wurden; 
und dieſe Thatſache beweist, in einem wie großartigen Maßſtabe 
die Cultur ausgeführt wird. Die Frucht der wilden Stachelbeere 
ſoll ungefähr eine Viertel Unze oder 5 Penny weights (dwts.), 
d. i. 120 Gran wiegen. Um das Jahr 1786 wurden Stachel⸗ 
beeren ausgeſtellt, die 10 dwts. wogen, jo daß das Gewicht da- 
mals verdoppelt war. 1817 waren 26 dwts. 17 grs. erreicht; 
bis 1825 war kein Fortſchritt gemacht; hier wurden aber 31 dwts. 
16 grs. erreicht; 1830 wog der „Teazer“ 32 dwts. 13 grs.; 
1841 wog „Wonderful“ 32 dwts. 16 grs.; 1844 wog „London“ 
35 dwts. 12 grs., und im folgenden Jahre 36 dwts. 16 grs. 
Im Jahre 1852 erreichte in Staffordſhire die Frucht dieſer Va⸗ 
rietät das erſtaunliche Gewicht von 37 dwts. 17 grs. oder 
895 Gran (ungefähr fünf Loth), d. i. alſo zwiſchen ſieben und 
achtmal das Gewicht der wilden Frucht. Ich fand, daß ein kleiner 
Apfel von 6 ½ Zoll im Umfang genau daſſelbe Gewicht hatte. 
Die Stachelbeere „London“ (welche 1862 im Ganzen 343 Preiſe 
gewonnen hatte), hat bis auf das jetzige Jahr 1864 kein größeres 


Gewicht erreicht, als bis zu dem es 1852 gekommen war. Viel⸗ 
leicht hat die Frucht der Stachelbeere jetzt das größtmögliche Ge⸗ 
wicht erreicht, wenn nicht im Laufe der Zeit irgend eine völlig 
neue und diſtincte Varietät noch entſteht.“ 


„Dieſe gradweiſe und im Ganzen ſtetige Zunahme des Ge⸗ 


wichtes von den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts 
bis 1852 iſt wahrſcheinlich zum großen Theil Folge der verbeſſer⸗ 
ten Culturmethoden; denn man wendet jetzt die äußerſte Sorgfalt 


an. Die Zweige und Wurzeln werden gezogen, Humus wird 
präparirt, der Boden gedüngt und nur wenig Beeren werden an 
jedem Strauche gelaſſen. Aber dieſe Zunahme hängt ohne Zwei⸗ 
fel der Hauptſache nach von der fortgeſetzten Zuchtwahl von Säm⸗ 
lingen ab, von denen man gefunden hat, daß ſie immer mehr 
und mehr fähig werden, ſolche außerordentliche Früche zu tragen. 
Sicherlich hätte der „Highwayman“ 1817 keine Früchte tragen 


können, die denen des „Roaring Lion“ im Jahre 1825 gleich 
waren. Ebenſowenig hätte der „Roaring Lion“, trotzdem er von 


vielen Leuten an vielen Orten gezogen wurde, den außerordent⸗ 
lichen Triumph erlangen können, den im Jahre 1852 die „Lon⸗ 
don“ ⸗Stachelbeere feierte.“ 

In ähnlicher Weiſe behandelt Darwin alle Culturpflanzen Hauprmittel 
und zeigt fo nicht nur, wie ſehr veränderlich die Form und Be— 1 
ſchaffenheit der Thiere und Pflanzen iſt, ſondern auch, daß die Auswahl. 
Veränderung zwar beſtimmte, durch die Erblichkeitsgeſetze vorge⸗ 
zeichnete Bahnen einhält, allein innerhalb dieſer den Wünſchen 
des Züchters folgt. Die Hauptſache iſt nun die: wie erreicht der 
Züchter das gewünſchte Ergebniß, d. h. die Verrückung des Punktes, 


um welchen die individuelle Variation ſchwankt. Dies geſchieht, 
wie Ihnen jeder Kunſtgärtner und jeder Thierzüchter beſtätigen 
kann, dadurch, daß er möglichſt viel Stücke erzieht, aber alle die⸗ 
jenigen ſorgfältig beſeitigt, welche ſeinem Ideale nicht vollkommen 
entſprechen, und nur die zur Fortzucht zurückbehält, die die ge⸗ 
wünſchten Eigenſchaften in möglichſter Ausbildung aufweiſen. Das 
wiederholt er von Generation zu Generation und ſteigert, wie wir 
es bei der Größenzunahme der Stachelbeere ſahen, zwar nicht auf 
einmal, aber von Generation zu Generakion die Unterſchiede, welche 
ſeine Zöglinge von ihrem unveredelten Stammvater trennen, und 
zwar genau in der ihm zuſagenden Richtung. Dieſen Kunſtgriff 
der Züchter nennt Darwin »Selection,« zu deutſch Auswahl, 
und ſagt: wenn nachgewieſen werden kann, daß auch in der freien 
Natur eine derartige Auswahl ſtattfindet, die dauernd nach einer 
beſtimmten Richtung geübt wird, ſo muß auch hier der Mittel⸗ 
punkt, um welchen die individuelle Variation ſchwankt, immer 
weiter von ſeinem Ausgangspunkt entfernt werden. Dieſen Nach⸗ 
weis hat Darwin geliefert, und das it ſein unſterbliches Verdienſt 
um die Abſtammungslehre. Er ift nicht der Schöpfer dieſer Lehre, 
die beſtand lange vor ihm, war lebendig in allen, welche in der 


Entwicklung ihres Denkbermögens nicht auf der Stufe der cog- 


nitio rerum, des Wiedererkennens der Dinge, ſtehen geblieben, 
ſondern fortgeſchritten waren zur zweiten Stufe, zur investigatio 
causarum, zur Erforſchung der Urſachen. Er iſt nur der Be— 
gründer der Lehre von der Umwandlung der Lebeweſen durch die 
„natürliche Auswahl“ (in ſeiner Mutterſprache »natural se- 


leetion«). 


Soll das auseinandergeſetzt werden, jo müſſen wir auf den Inbivibuelle 
Variation 


Ausgangspunkt der Abſtammungslehre zurückgehen, auf die indi⸗ der Forelen. 


viduelle Variation. Kommt die in der freien Natur ebenſo vor, 
wie bei unſeren Hausthieren und Culturpflanzen? Ich will, da 
ſich vielleicht mancher der geehrten Anweſenden entſchließen wird, | 
Darwin's Werk ſelbſt zu leſen, ein Beiſpiel aus meiner eigenen 
Erfahrung anführen, um Ihnen eine Wiederholung zu erſparen. 
Ich habe durch vier Jahre jeden Winter etwa 30,000 Forellen⸗ 
eier ausbrüten laſſen und mir die vorkommenden individuellen Va⸗ 
riationen näher betrachtet. Hier fand ich nun Folgendes. Es 
war ſchon ein beträchtlicher Unterſchied in den Eiern wahrzuneh⸗ 
men. Einige waren ſchön orangeroth, andere blaßgelb, andere 
grünlich. Die erſteren lieferten die kräftigſten Fiſche, die grün⸗ 
lichen minder gute und die blaßgelben waren häufig taub. Ein 
Theil dieſer Eier konnte gar nicht befruchtet werden, ſtarb vor g 
der Befruchtung; ein anderer Theil ſtarb, nachdem die Dotter⸗ 
furchung durchlaufen war. Dann trat eine große Sterblichkeit 
ein, als in dem Ei die Augen des jungen Thieres zu ſehen waren. 
Als das Ausſchlüpfen begann, machten es die Jungen auf die 
zwei einzig möglichen Weiſen: Die einen verſuchten mit dem Kopf 
aus dem Ei herauszukommen, die andern mit dem Schwanz. Die 
erſten gingen zu Grunde: die Spalte der Eihaut faßte ihnen die 
Kiemendeckel und ſie erſtickten, während diejenigen, welche mit dem 
Schwanz zuerſt herauskamen, die übergeſtülpte Eihaut nicht an 
der Athmung hinderte und ihnen ſo Zeit blieb, die Haut ab⸗ 
zuſtreifen. | 

Unter den glücklich zu Tage geförderten Jungen waren nun 


normale, große und kleine, helle und dunkle; dann kamen Miß⸗ 
geburten, die am Bauch zuſammengewachſen waren, wie ſiameſiſche 
Zwillinge; es waren welche da, welche an den Seiten zuſammen⸗ 
gewachſen waren, es waren da mit zwei Köpfen und einem Leib, 
mit einem Kopf und zwei Schwänzen; es waren gerade geſtreckte, 
kreisförmig gebogene, ſpiralförmig gedrehte, ſymmetriſche und un⸗ 
ſymmetriſche. Verfolgte man den weiteren Verlauf, ſo ſah man, 
wie zuerſt die Mißgeburten abſtarben; ein Fiſch mit zwei Schwän⸗ 
zen kann nicht ſchwimmen; zwei Fiſche, die mit dem Bauch zu⸗ 
ſammengewachſen ſind, auch nicht; ein Fiſch, der ſpiralförmig 
gedreht iſt, ebenſowenig. Manche individuelle Variationen, z. B. 
die, die einen dreigabligen Schwanz hatten, brachten es am Wei⸗ 
teſten; aber bei der Fütterung ſah man, daß ſie im Kampf um's 
Daſein den regelmäßig Gebauten nachſtehen, und es gelang nur 
wenigen, ſich zu erhalten, wenn man ſie in einem beſondern Ge⸗ 
fäß fütterte. Dieſer Fall zeigt Ihnen, daß auch in der freien 
Natur individuelle Variation in Hülle und Fülle vorkommt, und 
wenn ich hinzufüge, daß eine Forelle von 1 Pfund Gewicht 
600 Eier legt, und daß es, um den Normalſtand der Fiſche in 
einem Bach zu erhalten, nur nothwendig iſt, daß zwei dieſer Eier 
erwachſene Forellen liefern, ſo bleiben zur Auswahl und Aus⸗ 
jätung 598 da. Es fehlt alſo weder an Material zur Auswahl 
nach der Kopfzahl, noch fehlt es an individuellen Variationen in 
der Natur. Ich will in Betreff der Kopfzahl noch einige Zahlen 
anführen. 

Große Zahl Es gibt eine Reihe von Fiſchen, deren Eizahl mehrere Mil⸗ 

* bene open beträgt. Eine Maus hat im Verhältniß zu der Fortpflan⸗ 


57 


zungsfähigkeit von Fiſchen und Inſekten eine ſehr beſcheidene Ver⸗ 
mehrungsfähigkeit, und doch kann es Ihnen jeder Realſchüler aus⸗ 
rechnen, daß bei ungeſtörter Fortpflanzuug, bei Anweſenheit von 
reichlichem Futter, ehe ein halbes Menſchenalter vergeht, aus einem 
Mäuſepärchen eine Summe von Mäuſen hervorkommt, welche 
ſchwerer wiegt, als unſer ganzer Erdball. Unter allen Thieren 
pflanzt ſich keines langſamer fort, als ein Elephant. Erſt im 
dreißigſten Jahr wirft er ſein erſtes Junge, und wenn man nun 
annimmt, daß er mit 90 Jahren das Zeitliche ſegnet und bis 
dahin drei Paar Junge geboren hat, jo wächst doch die Nachkom— 
menſchaft eines einzigen Paares nach Verlauf von 500 Jahren, 
wenn keines dieſer Thiere vorzeitig geſtorben iſt, auf die Summe von 
15,000,000 Stücke. Da nun eine ſolche ungeheure Vermehrung 
thatſächlich nie eintritt, ſo können wir entnehmen, welche koloſſale 
Vernichtungen und Ausjätungen ſtattfinden. 
Es fragt ſich nun, wer jätet aus, wer wählt? Hier hat wer wählt? 


Darwin eine Reihe von Verhältniſſen aufgehellt. Ich will einige 


davon anführen. 

Ein erſter Punkt iſt die ſogenannte Mitbewerbung im witbewer⸗ 
Kampf um's Daſein. Jedes Thier muß mit denen feiner eige- s. 
nen Art einen Wettkampf eingehen, um zu ſeiner Nahrung zu 
gelangen, ſeine Niſtſtätte zu behaupten, Wohnung und Unter⸗ 
ſtand zu gewinnen. In allen Verhältniſſen muß es kämpfen 
gegen ſeine eigenen Artgenoſſen, die ihm den Rang abzulaufen 
ſuchen. Der unausbleibliche Erfolg iſt, daß der Stärkſte Meifter 
wird, daß alſo unter den individuellen Variationen diejenigen aus⸗ 


gewählt werden, welche mit beſſeren Waffen für den Kampf um's 


ELTERN 


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58 


Daſein ausgerüſtet ſind. Während die minder Befähigten, wie 
wir bei den Forellen ſahen, meiſt ſchon im früheſten Jugendalter 
ausgejätet und vertilgt werden, gelangen die andern faſt allein 
in's fortpflanzungsfähige Alter. Es findet alſo ganz genau das 


ſtatt, was der Thier- und Pflanzenzüchter vornimmt: Auswahl 


Beiſpiele. 


2) Männer⸗ 
kampf. 


der zur Fortzucht geeignetſten Einzelnweſen. Nehmen wir einige 
Beiſpiele vor. 

Unter den Flamingo's, die im ſeichten Waſſer ihrer Nahrung 
nachgehen, beherrſchen die das größte Nahrungsgebiet, welche die 
längſten Hälſe und Beine haben. Nach meinen eigenen Meſſun⸗ 
gen variirt dieſe in bedeutendem Maße, aber doch jo, daß die 
langbeinigen jetzt ſchon in der Mehrzahl ſind, die Concurrenz wird 
allmählig zu einer vollſtändigen Ausſcheidung der kurzbeinigen 
führen, und wie bei der Stachelbeere muß es zu einer fortwäh— 
renden Steigerung der Beinlänge kommen, allerdings nur bis zu 
einem Grade, der ſich noch verträgt mit der Stabilität dieſer 
Werkzeuge. So kämpfen einzeln lebende Thiere, wie die Ham— 
ſter, die Raubvögel ꝛc., um ihren Jagdbezirk, verdrängen die 
ſchwächeren und ſetzen ſie dem Hungertode aus. Derlei Beiſpiele 
ließen ſich noch zahlreiche anführen und ſo die Nachweiſe liefern, 
daß die einfache Mitbewerbung mit Nothwendigkeit zur weiteren 
Ausbildung dieſer oder jener Waffe des Thieres im Kampf um's 
Daſein führen muß. 

Ein zweiter Punkt iſt ſehr merkwürdig. Er klärt uns auf 
über die Verſchiedenheiten, welche ſo häufig zwiſchen männlichen 
und weiblichen Thieren in Bezug auf äußere Merkmale beſtehen. 
Sie wiſſen alle, daß die Hirſche kämpfen um ihre Weibchen, und 


es iſt klar, daß in dieſem Kampf diejenigen Waffen, mit welchen 
er geführt wird, zu einer größeren Vervollkommnung gelangen 
müſſen, weil der Hirſch, welcher die ſtärkſten Geweihe beſitzt, im 
Kampf Sieger bleibt, und die andern minder gut ausgerüſteten 
damit um die Möglichkeit, ſich zu vermehren, gebracht werden. 
Die urſprünglichen Vorfahren unſerer heutigen geweih- und hörner- 
tragenden Thiere beſaßen dieſe Kopfzierde noch nicht; ſie werden 
deßhalb von den Verſteinerungsforſchern Anoplotherien, d. h. 
waffenloſe Thiere, genannt. Das erſte Auftreten dieſer Waffen 
als individuelle Varietät durch einen Akt örtlicher Wachsthums⸗ 
ſteigerung bewegte ſich ohne Zweifel in höchſt beſcheidenen An⸗ 
fängen, gab aber dem Träger derſelben einen entſchiedenen Vor- 
theil im Männerkampfe und ſo war die allmählige Vergrößerung 
unausbleiblich. 

Wenn es ſich um die Erzielung von Nachkommenſchaft han- 8) Weibliche 8 
delt, haben wir noch eines Kampfes zu gedenken, bei welchem die 
Weibchen nicht, wie im vorigen Falle, eine unthätige, ſondern 
eine ſelbſtthätige Rolle ſpielen. Wenn eine Faſanhenne die Wahl 
unter mehreren Faſanhahnen hat, entſcheidet ſie ſich immer für AN 
den ſchönſten, und es iſt begreiflich, daß alle diejenigen, welche 
in dieſer Beziehung individuell weniger gut geartet ſind, ohne 
weibliches Gefolge bleiben. Ich habe eine Beobachtung in dieſer 
Richtung gemacht. Einem Silberfaſanenhahn, der bei dieſer Wahl 8 
Sieger geblieben war, wurde ſein Federnſchmuck verdorben; ſofort N 
hatte fein Nebenbuhler die Oberhand gewonnen und führte von 


da an die Heerde. Alſo neben dem Männerkampf erklärt uns » 


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2923 


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— — — 


4) Auswahl 
durch Feinde. 


60 


die von den Weibchen getroffene Auswahl einen Theil der Unter⸗ 
ſchiede, die äußerlich bei vielen Thieren die Geſchlechter ſcheiden. 

Wir können ſogleich bei dem gewählten Beiſpiel von den Faſa⸗ 
nen ſtehen bleiben, um einen weiteren wählenden Einfluß von höchſter 
Bedeutung zu erörtern, nämlich die Feinde, welche ein Thier hat. 
Gegen ſie haben die Weibchen der genannten hühnerartigen Thiere 
einen Kampf zu führen, der dem Männchen gänzlich erſpart iſt. 
Dem erſteren iſt nämlich das Brütegeſchäft ausſchließlich anver⸗ 
traut, während deſſen hat es ruhig dazuſitzen und darf nur dann 
hoffen, ſein Geſchäft zu beendigen, wenn es von ſeinen Feinden 
möglichſt ſchwer erblickt wird. Jede durch auffällige Farbe grell 
von der Umgebung abſtechende Faſanhenne muß den Angriffen 
von Raubvögeln mehr ausgeſetzt ſein, als eine Bodenfarbige, und 
wenn ſie auch nicht gefangen wird, ſo wird ſie doch viel häufiger 
vom Neſt verjagt, als eine andere. Schon dieſer eine Umſtand 
kann genügen, ihr das Brütegeſchäft zu verleiden, und wenn ſie 
eine Brüteperiode überſtanden hat, ohne zum glücklichen Ziel zu 
kommen, ſo wird ſie die nächſten Jahre nicht mehr brüten und 
damit außer Stand ſein, ihre individuelle Variation zu vererben, 
ſie fällt der Vernichtung anheim, während bei den günſtig ge— 
färbten Variationen das Gegentheil eintritt. 

Es iſt allen denen, welche ſich mit der Jagd beſchäftigen, 
wohl bekannt, daß es ſogenannte hahnenfarbige Faſanhennen gibt; 
dieſe ſind meiſt unfruchtbar. Das kommt ſicher davon her, daß 
diejenigen, welche dieſe Hahnfärbung angenommen haben, fort⸗ 
während im Brüten geſtört werden und ſchließlich gar nicht mehr 


brüten. 


61 


Ein anderer Fall von Beſeitigung gewiſſer individueller Va⸗ Habicht 
riationen durch Feinde iſt folgender: Wenn Sie einen Schlag voll N 
Haustauben beſitzen von allen möglichen Farben, und es ſiedelt 
ſich ein Habicht in der Gegend an, ſo werden Sie nach einiger 
Zeit Ihre weißen Tauben vermiſſen; nach einer weiteren Zeit 
werden die Geſcheckten fehlen und ſchließlich ſind nur noch blaue 
übrig. Der Auswähler war hier niemand anders, als der Habicht, 
der eine weiße Taube, weil er ſie im Flug als leuchtenden Punkt 
beſſer verfolgen kann, eher und erfolgreicher angreift, als eine 


von minder leuchtender Färbung. Wenn Sie in dieſem Zimmer 


eine große Zahl von Inſekten in allen denkbaren Farben des 
Regenbogens lebendig fliegen laſſen und ihnen geſtatten, ſich auf 
alle Gegenſtänden zu ſetzen, ſo wird ein Singvogel, gewöhnt, 
ſitzende Inſekten im Flug abzuleſen, an den rothen Wänden die 
weißen zuerſt finden, an der weißen Wand wird er die rothen zu⸗ 
erſt abnehmen, und wenn Sie ihn eine Zeitlang ſein Handwerk 
hier treiben laſſen, jo werden Sie auf der rothen Wand nur rothe 
ſitzen ſehen, auf der weißen weiße, und jo oft Sie auch die Sache 
wieder durch einander miſchen, immer trifft der Vogel die Aus⸗ 
wahl ſo, daß die Inſekten auf der ihrer Körperfarbe entſprechen⸗ 
den Stelle ſitzen bleiben. 

Ich will, da wir vom Habicht ſchon geſprochen haben, ein Farbe der 
Beiſpiel bezüglich der Farbe unſerer Wintervögel geben. Es ie en 
Ihnen allen bekannt fein, daß diejenigen größeren Vögel, die bei 
uns ſich Winters offen umher treiben, wofern ſie nicht die Fähig⸗ 
keit haben, gleich dem Schneehuhn ꝛc., mit der Jahreszeit die 
Farbe zu wechſeln, ſchwarz, oder ſchwarz und weiß, oder grau, 


62 


oder bodenfarbig ſind, nie aber ganz weiß, und doch kann Sie 
ein Gang in ein wohlgefülltes Naturalienkabinet überzeugen, daß 
es bei dieſen Thieren nie an individuellen Variationen von weißer 
Farbe fehlt: Sie finden weiße Raben, weiße Elſtern, weiße Doh⸗ 
len, weiße Amſeln, weiße Sperlinge, weiße Rebhühner, und es 
ſind auch Fälle bekannt, wo dieſe Abweichungen von der gewöhn⸗ 
lichen Färbung erblich auftraten. Aus den Verhältniſſen, wie fie 
im Winter bei uns find, erklärt ſich dieſe fortdauernde Ausſtoßung 
der weiß gerathenen Standvögel nicht, denn dieſe Farbe würde 
ſie zu der Zeit faſt noch beſſer ſchützen, als die düſteren, wodurch 
ſie Veranlaſſung geben, mit den dunkeln Klexen verwechſelt zu 
werden, welche Steine, Blätter, Schollen ꝛc. auf dem Schnee⸗ 
teppich erzeugen. Wir müſſen uns alſo nach einem andern Um- 
ſtand umſehen, und der ſpringt ſofort in die Augen, wenn wir 
berückſichtigen, daß dieſe Vögel auch Sommers bei uns bleiben, 
wo die weiße Farbe ſie, wie wir an den Beiſpielen von den weißen 
Tauben ſahen, den größten Gefahren Seitens ihrer Feinde, der 
Raubvögel, ausſetzt. Dieſe find die Urſache, daß es bei uns keine 
anderen weißen Wintervögel gibt, als ſolche, die befähigt ſind, 
im Sommer immer wieder ein bodenfarbiges Gefieder zu gewinnen. 
Ich will noch einen Akt der Auswahl durch Feinde anführen, 

der ſich jetzt noch abwickelt und zu einer Umänderung mehrerer 


Arten unſeres freiwilligen Hausthierſtandes geführt hat und füh⸗ 
ren wird. 


Schwarz⸗ Wir beſitzen bekanntlich zwei Rattenarten, die langohrigen 
werden der 


Hausratten. blauſchwarzen, jetzt ſehr ſelten gewordenen Hausratten und die 
kurzohrigen, lederbraunen, jetzt die Mehrzahl bildenden Wander⸗ 


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ratten. Die erſte Rattenart, die ſogenannten Hausratten, wanderte 
in Europa erſt in hiſtoriſcher Zeit ein. Die Römer und Griechen 
kennen ſie noch nicht, erſt im zwölften Jahrhundert erwähnt ſie 
Albertus Magnus. Sie ſind, wie man jetzt weiß, aus Egypten 


gekommen, wo ſie gleich unſern Wühlmäuſen im Felde in Erd⸗ 
höhlen leben. Nun ſind aber dieſe egyptiſchen Ratten braun, 


während ſie in Europa, wo ſie nur in menſchlichen Wohnungen 


angetroffen werden, blauſchwarz ſind, mit ſeltenen, bis jetzt nur 
in Italien und Süddeutſchland aufgefundenen Ausnahmen, die 
wir wahrſcheinlich als friſche Einwanderer auf Schiffen anzuſehen 
haben. Bis vor kurzem hatte dieſer Unterſchied in der Färbung 
die Zoologen beſtimmt, unſere Hausratte und den egyptiſchen 
Wildling für zwei verſchiedene Arten zu halten, bis uns jetzt die 
Augen geöffnet worden ſind, daß wir es mit einer Umwandlung 
bedingt durch feindliche Auswahl, zu thun haben. Zu Mitte des 
vorigen Jahrhunderts drang nämlich bei uns eine neue Ratten 
art, die Wanderratte, ein, nicht aus Afrika, ſondern aus Aſien, 
wo fie gleich unſerer Feldmaus im Boden lebt. Sie iſt braun, 
wie alle Bodenthiere. Auch ſie hat ihre Lebensweiſe in gleicher 
Art geändert, wie der egyptiſche Einwanderer, ſie lebt bei uns 
nur in von Menſchen errichteten Gebäulichkeiten. Bald tauchte 
da und dort eine blauſchwarz gefärbte Wanderratte auf, die man 
ebenſo als Curioſität den Naturalienſammlungen einverleibte, wie 
die weißen Raben, Elſtern, Rebhühner ꝛc. Jetzt erhält man aber 
Nachricht, daß die Kopfzahl dieſer blauſchwarzen Varietät in ſtetem 
Zunehmen iſt, und man darf ſich nicht länger der Erkenntniß 
verſchließen, daß bei der Wanderratte der gleiche Prozeß der Um⸗ 


ee = 


färbung in vollen Bang iſt, der bei der ſchon länger in Europa 
gezüchteten Hausratte bereits vollſtändig zum Abſchluß gekom⸗ 
men iſt. 

Wer wählt nun hier zwiſchen der ſchwarzen und der brau⸗ 
nen Varietät? a 

Wer je in der Lage war, dieſem Ungeziefer größere Auf⸗ 
merkſamkeit zu ſchenken und als Direktor des Wiener Thiergartens 
gehörte dies leider zu einer meiner erſten Obliegenheiten, wird 
recht gut wiſſen, daß die braune Farbe einer Ratte für ſie eine 
große Gefahr iſt. Während man die graue Maus im Dunkeln 
außerordentlich ſchwer ſieht, leuchtet der braune Pelz der Wander- 
ratte einem geſchärften Auge ſo gut entgegen, daß man ſie ſelbſt 
bei Nacht mit dem Gewehr erlegen kann. Der Hauptfeind der Ratte 
iſt die Katze, und der geht es nicht beſſer als uns; auch ſie ſieht das 
braune Fell beſſer, als das ſchwarze und trifft ſomit, fo wie der Habicht 
bei den Tauben, eine Auswahl, welche über kurz oder lang dahin 
führen wird, daß wir nur noch ſchwarze Wanderratten haben. 
Ueber die Geſchichte unſerer Hausmaus wiſſen wir zwar nichts, 
aber ſicher fand bei ihr derſelbe Umfärbungsprozeß ſtatt, wie bei 
den Ratten, denn auch ſie unterſcheiden ſich von den braunen 
Feld⸗ und Waldmäuſen durch die ſchwarzgraue Färbung. Dieſes 
Beiſpiel möge Sie auch wieder an das erinnern, was ich über 
den Werth der Wanderung und Acclimatiſation für die Abſpaltung 
neuer Arten ſagte. Der Ausgewanderte iſt anderartigen wählen⸗ 
den Einflüſſen ausgeſetzt, als der im Mutterlande Zurückbleibende, 
und daher das Auseinandergehen in zwei Arten: Bei den feld⸗ 


bewohnenden Ratten in ihrer Heimath vertilgen die Raubvögel